HISTORICAL WEIHNACHTEN Band 02
Obhut. Ohne Stephen wird sie nirgendwo hingehen.“
Olivia hatte bereits den ganzen Weg bis zu den äußeren Wachposten zurückgelegt, als sie erkannte, was sie getan hatte. Plötzlich kraftlos sank sie in den gefrierenden Schlamm und presste die Hände auf den Magen.
Wie oft hatte sie Will nun schon zurückgestoßen? Hatte sich geweigert anzunehmen, was er ihr so verzweifelt schenken wollte? Sie verachtete sich wegen ihrer Schwäche. Aber die quälendste Frage von allen war, ob er sie Clement ausliefern würde.
Falls er zuvor nicht die Absicht gehabt hatte, sie Clement zu übergeben, so hatte ihre kopflose Flucht ihn vielleicht dazu bewegt, seinen Entschluss zu ändern.
Nein. Es war ein Verbrechen, schon wieder an ihm zu zweifeln. Er hatte ihr sein Versprechen gegeben. Sie durfte in ihrem Glauben an ihn nicht wanken. Sie musste an ihn glauben.
War etwas Gutes in ihr gestorben, sodass sie niemandem mehr vertrauen konnte? Vielleicht ja, auch wenn sie sich wünschte, dass dem nicht so war. Aber so vieles war geschehen.
Sie war behütet und verwöhnt in ihrem Elternhaus aufgewachsen. Als ihre Eltern starben, waren sie und Clare allein zurückgeblieben. Doch sie waren sich genug gewesen, denn sie liebten einander, und das ihnen hinterlassene Erbe hatte ihnen Sicherheit im Leben verschafft. Sie lebten zufrieden, bis ihre ältere Schwester Kenneth heiratete. Wieder fand Olivia ein liebevolles Heim, denn ihre Schwester und deren Gatte, die einander anbeteten, hießen Olivia in ihrem Haus willkommen. Als Stephen geboren wurde, wuchs ihre Freude noch um ein Vielfaches. Das Kind war die Wonne aller.
Und dann hatte sie alles verloren. Clare und Kenneth starben, und man nahm ihr Stephen. Sein Leben war in Gefahr gewesen.
Alles, was ihr vertraut gewesen war, war ihr ohne Vorwarnung entrissen worden. Konnte man es ihr da zum Vorwurf machen, dass sie ihr Herz nicht wieder einem Menschen öffnen wollte, und dass sie bezweifelte, dass irgendetwas je wirklich sicher war? Und dennoch, Will hatte ihr Misstrauen nicht verdient. Er war aufrichtig gewesen, hatte sich ehrenhaft benommen. Und sie hatte sich geweigert, es zuzugeben. Das war falsch gewesen.
Sie hatte ihn so verletzt.
Erschöpft und ohne einen Ort zu haben, wohin sie gehen konnte, machte sie sich auf den Weg zu John und Marthas Hütte. Dort sagte man ihr, dass Stephen in die Burg geholt worden war. Clement war angekommen und saß jetzt mit Will im Saal. Sie hatte sich kaum von diesen Neuigkeiten erholt, als Elbert auftauchte.
„Ach, hier seid Ihr, Olivia.“ Er strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich soll Euch jetzt als meine Herrin anreden. Lord William möchte, dass Ihr ihm und seinem Gast im Burgsaal Gesellschaft leistet.“
Will betrachtete Olivia nachdenklich, als sie den Saal betrat. Bei Leuten, die zum Galgen gingen, hatte er fröhlichere Gesichter gesehen. Er stand auf und reichte ihr die Hand. „Olivia, kommt zu mir.“
Die stumme Drohung, die von dem Gast an seiner Seite ausging, war so spürbar wie die Hitze einer Kohlepfanne. Clement Cavenere war ein hohlbrüstiger Mann mit der gebeugten Haltung eines großen Menschen, der sich wegen seiner Größe unbehaglich fühlte. Tiefdunkle Schatten unter seinen Augen gaben seinem Blick etwas Wahnsinniges.
Während ihrer Begegnung hatte Will rasch Clement Caveneres Habgier und Entschlossenheit erkannt, die dieser auch nicht im Geringsten zu verbergen suchte, noch nicht einmal um des schönen Scheins willen. Wenn Will ihn nicht schon wegen des Schreckens verabscheut hätte, den er in Olivia weckte, hätte seine eigene instinktive Abneigung das Urteil über den Charakter seines Gastes gefällt.
Von Anfang an zeigte Clement sich selbstgefällig. Er erzählte, wie der Hausierer, der Olivia, Gean und Stephen auf seinem Karren mitgenommen hatte, von den Suchtruppen gefunden worden war und schnell gestand, die drei nach Thalsbury gebracht zu haben. Clement hatte demnach gewusst, dass Olivia sich hier aufhielt, und es gab nichts, was Will hätte tun können, um sie zu verstecken.
Olivia warf einen raschen Blick auf Clement, dann sah sie Will fest in die Augen, trat zu ihm und legte die Hand in seine ausgestreckte Hand.
Am raschen Heben und Senken ihrer Brust erkannte er, dass sie schwer atmete. Und als er sie schützend an sich zog, spürte er die Anspannung in ihrem Körper. Da erkannte er plötzlich, wie die ganze Situation in Olivias Augen aussehen musste. Er hatte das Kind, er war den ganzen Nachmittag
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