Historical Weihnachten Band 6
teilen und Kinder haben würde. Lady Giselle entsprach in allem genau seinen Vorstellungen.
Und wenn es da jemanden gab, den sie liebte, dann musste er eben dafür sorgen, dass sie diesen Mann so schnell wie möglich vergaß.
3. KAPITEL
W ährend der Messe stand Sir Myles links hinter ihr, und Giselle konnte seinen Blick förmlich in ihrem Nacken spüren. Wie sollte sie sich auf Vater Paul und die komplizierte lateinische Liturgie oder auf die engelsgleichen Stimmen der Chorknaben konzentrieren, wenn er sie dermaßen anstarrte?
Es fiel ihr ohnehin nicht leicht, sich voll und ganz auf den Gottesdienst einzulassen, denn in Gedanken war sie schon mit der Organisation des Tagesablaufs beschäftigt. Der Weihnachtsabend war noch gar nicht angebrochen, und schon hatte es die erste Panne gegeben. Verstört hatte der Stallmeister ihr gebeichtet, dass das Heu für die Pferde knapp zu werden drohte. Mehrere Burschen mussten anspannen und mit ihren Karren Nachschub von den umliegenden Katen heranbringen, und Giselle war nur froh, dass ihr Onkel von dieser peinlichen Fehlkalkulation nichts erfahren hatte. Störungen im Ablauf konnte sie verkraften, denn sie war immerhin weitblickend genug, um schnell und besonnen zu reagieren.
Was sie aber überhaupt nicht gebrauchen konnte, war Sir Myles’ ständige Anwesenheit.
Es schien, als verfolge er sie auf Schritt und Tritt, umschwirrte sie wie eine Biene die Honigwabe, sprach aber kein Wort mit ihr.
Was wollte er damit erreichen? Konnte er nicht verstehen, dass seine ständige Gegenwart sie ablenkte? Und wie irritierend es war, wenn sie ihn dann plötzlich überhaupt nicht mehr sah?
Nachdem die Messe zu Ende war und alle sich von ihren Bänken erhoben, war er auf einmal verschwunden. Giselle entdeckte ihn in der Menge am Ausgang der Kapelle, und sie beobachtete, wie er sich mit Lady Alice unterhielt, die gackerte und sich aufplusterte wie eine dumme Henne. Kein Wunder, wo sie doch ihre ganze Zeit damit verbrachte, über Männer zu reden, die sie unterhaltsam, interessant und anziehend fand – und das waren in ihren Augen die allermeisten.
Warum machte Sir Myles nicht ihr den Hof, wenigstens einen Abend lang? Alle freuten sich auf das große Weihnachtsfest, den Höhepunkt aller Feierlichkeiten, und es durfte einfach nichts schiefgehen dabei. Wenn er sie nur in Ruhe ließe!
Aber er ließ sie nicht in Ruhe. Unentwegt tauchte er in ihrer Nähe auf und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen, wie ein Spion, wie ein Leibwächter.
Als sie in der Küche mit dem Personal die Teller durchzählte, stand er plötzlich in der Tür und bat um ein Stück Brot, weil Lady Alice die Enten füttern wollte.
Als sie in den Stallungen die neu eingetroffenen Heuballen stapeln ließ, erschien er wie aus dem Nichts, um nach seinem Hengst zu sehen.
Und während sie von einem Lagerhaus zum anderen eilte, um die Vorräte an Obst und Wein zu kontrollieren, musste er unbedingt in der Kälte im Hof mit Wurfringen spielen.
Kurz gesagt, er lief ihr ständig über den Weg, wohin sie auch ging, doch er sprach kein einziges Wort mit ihr. Sagte nicht einmal „Frohe Weihnachten“.
Aber darauf konnte sie auch verzichten, denn im Laufe des Abends taten alle anderen Gäste es tausendmal und waren hingerissen von der Qualität und der Zusammenstellung der Speisen. Die Tafeldiener arbeiteten aufmerksam, höflich und schnell, und das Mahl war vorbei, noch bevor Giselle einmal richtig durchgeatmet hatte. Diesmal gab es auch keine gezwungene Unterhaltung oder Beschwerden über ihre geistige Abwesenheit, denn Giselle hatte sich selbst an der linken Seite ihres Onkels und Sir Myles zu seiner Rechten platziert.
Nun, nachdem auch der letzte Gang mit Obst und Früchten abgetragen war, musste sie nur noch dafür sorgen, dass die verschiedenen Glasgefäße mit der Weihnachtsbowle an die jeweils richtigen Tische gebracht wurden. Für die Adeligen an den Hohen Tischen bestand das Getränk aus erlesenem Wein, kostbaren Gewürzen und süßen Apfelstückchen. Das Obst der weniger hochrangigen Gäste schwamm in heißem Bier, und die Dienerschaft labte sich an warmem Apfelwein.
Jeder in der großen Runde an den Hohen Tischen brachte einen Toast aus, und dann wurde ein Teil des Saales freigeräumt für die Jongleure und Akrobaten, die Giselle zur Unterhaltung der Gäste engagiert hatte. Endlich konnte auch sie sich einmal fallen und von den Kunststücken der Artisten faszinieren lassen, denn von Sir Myles war in diesem
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