Historical Weihnachten Band 6
Kinder, und die Frauen hatten mitgebracht, was auch immer sich in ihren ärmlichen Hütten für den Transport der Speisen eignete.
Manche hielten einen alten Weidenkorb in den blau gefrorenen Händen, andere ein grobes Leinentuch, wieder andere hielten nur ihre Schürzen hoch. Giselle ließ das Tor öffnen, und die Kinder drängten sich zu ihr heran. Die meisten kannte sie sogar mit Namen, streichelte ihnen über den Kopf und drückte ihnen ein Stück Brot oder ein Wurstende in die Hand. Was in dem Gedränge auf den Boden fiel, wurde sofort wieder aufgehoben, und wenn eines der Kinder mit seiner hellen Stimme „Danke ergeben, Mylady“ sagte, war Giselle tief gerührt.
Dann verteilte sie die restlichen Lebensmittel aus den Körben an die Erwachsenen. Die Dankbarkeit dieser bescheidenen Menschen, die trotz harter Arbeit allzu oft nicht genug zu essen hatten, bedeutete ihr mehr als die Anerkennung ihrer vornehmen Gäste.
Von allen Aufgaben, die Lady Giselle an Weihnachten zu bewältigen hatte, war ihr diese die liebste.
Nachdem alles verteilt war und die Pächter sich mit ihren Familien glücklich auf den Heimweg gemacht hatten, ließ Giselle das Tor wieder schließen und schickte die Jungen zurück in die warme Küche.
Fröstelnd hüllte sie sich in ihren Umhang und machte sich gerade wieder auf den Rückweg ins Burginnere, als sich aus der Dunkelheit im Hof ein Schatten löste und Sir Myles auf sie zukam. Sein Gesichtsausdruck war im fahlen Mondlicht nicht genau zu erkennen – eine Mischung aus Wohlwollen und noch etwas anderem, etwas wie Anerkennung oder sogar Respekt.
„Was macht Ihr denn hier in der Kälte, Sir Myles? Solltet Ihr nicht im Festsaal sein und mit den anderen den Reigen tanzen?“
Er nahm sie beim Arm und geleitete sie zu der großen Freitreppe, die in die Eingangshalle führte.
„Ich war neugierig, was Euch wohl wichtiger sein könnte als unser erbauliches Tanzvergnügen“, gestand er. „Und ich finde, Ihr habt das gerade sehr gut gemacht.“
„Es ist ja auch nicht schwierig, Dinge zu verschenken, die man selbst nicht mehr braucht.“
„Allerdings beherrscht Ihr die Kunst, es so aussehen zu lassen, als wäret Ihr selbst die Beschenkte.“
„Ich verstelle mich nicht, Sir Myles“, entgegnete Lady Giselle ruhig. „Es macht mir wirklich Freude, die dankbaren Blicke der Kinder zu sehen und mir vorzustellen, dass sie sich wenigstens heute Abend einmal richtig satt essen können.“
„Mögt Ihr Kinder?“
„Natürlich. Ihr etwa nicht?“
„Ehrlich gesagt, ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber doch, ich mag sie. Ich hätte sogar selbst gern welche, wenn Ihr die Mutter sein wollt.“
Giselle bemerkte eine Veränderung an ihm. Er war auf einmal nicht mehr so arrogant und überheblich, sondern menschlich und aufrichtig. So gefiel er ihr wesentlich besser, so gut sogar, dass sie sein Ansinnen auf einmal gar nicht mehr so aufdringlich und verwerflich fand. Nur zeigen wollte sie ihm das nicht.
Sie raffte den Saum ihres Kleides, drehte sich wortlos um und lief ins Haus zurück, so schnell, wie es einer Lady gerade noch gestattet war zu laufen.
4. KAPITEL
E r tat es schon wieder. Wieder stand Sir Myles während der Morgenandacht in der Kapelle hinter ihr, und wieder gelang es ihm, ihre Gedanken durcheinanderzubringen, ohne dass er ein einziges Wort zu ihr sagte. Allerdings schaffte er es auch, sie zu verunsichern, ohne hinter ihr zu stehen.
Er musste noch nicht einmal im selben Raum mit ihr sein, was die vergangene Nacht deutlich gezeigt hatte. Er beherrschte sogar ihre Träume, aus denen sie mehrfach hochgeschreckt war, und ihren kurzen, unruhigen Schlaf. Die meiste Zeit hatte Giselle wach gelegen oder war in ihrem Gemach auf und ab gegangen und hatte versucht, ihre in Verwirrung geratenen Gefühle und Gedanken wieder zu ordnen.
Dass ihre Eheschließung irgendwann einmal unumgänglich werden würde und die Zeit allmählich näher rückte, war ihr schon lange klar. Aber sie fühlte sich noch nicht reif dafür und konnte sich nicht entschließen, die Ehe mit irgendjemandem einzugehen.
Ach, wäre Sir Myles doch auch nur einer dieser oberflächlichen, selbstverliebten jungen Edelmänner, dann wäre es leichter für sie, ihn nicht zu mögen und auf ihrer Sehnsucht nach Freiheit zu beharren. Anfangs hatte sein Verhalten sie in ihrer Ablehnung bestärkt, doch gestern Abend hatte Giselle eine andere Seite an ihm kennengelernt, eine aufrichtige, sympathische Seite, und das machte
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