Historical Weihnachten Band 6
Kelch randvoll mit samtigem rotem Wein und nahm einen großen Schluck. Auch ein Blinder hätte sehen können, dass mit Lady Giselle etwas nicht stimmte, und ebenso merkwürdig verhielt sich ihr Onkel.
Gleich nach Myles’ Ankunft hatte Sir Wilfrid ihn in seinem Privatgemach empfangen, doch anstatt über die geplante Hochzeit hatte er in einem fort über ganz andere, weitaus weniger wichtige Dinge schwadroniert. Bevor Myles sichs versah, war es Zeit gewesen, sich für den Abend umzukleiden, und während er das tat, kam ihm der Gedanke, dass die Sache anders verlief als geplant.
Nun, wirklich geplant hatte er auch gar nichts; er hatte sich nur vorgestellt, dass er gemeinsam mit Sir Wilfrid den Ehevertrag unterzeichnen und alles andere wie von allein laufen würde. Dass er Sir Wuthertons Nichte, ohne sich groß anstrengen oder verstellen zu müssen, von sich überzeugen würde. Stattdessen begegnete sie ihm geradezu feindselig, und Sir Wilfrid wich ihm aus.
Manchmal konnte Sir Myles auf fremde Menschen etwas überheblich wirken, und das war ihm auch bewusst. Andererseits konnte keiner der Anwesenden ihm tatsächlich das Wasser reichen, schon gar nicht dieser blonde Knabe, den Giselle ja geradezu anhimmelte, dieser George de Gramercie.
Jeder hätte dem zugestimmt, nur sie tat es nicht. Unter ihrem kühlen, abschätzigen Blick geriet Myles’ Selbstsicherheit ins Wanken. Er kam sich vor wie damals, als er noch der kleine Junge war, der seinem Vater nie etwas hatte recht machen können. Dem seine großen Brüder immer als leuchtendes Vorbild für Kraft und Tugend vorgehalten wurden, während sein Vater ihn herabwürdigte, wo er nur konnte.
Zumindest hatte Sir Wilfrid ihm Anerkennung und Respekt erwiesen, und seine Zustimmung zu der Heirat mit seiner Nichte war alles, was Myles Buxton sich je erhofft hatte.
Doch nun war da Lady Giselle, bildschön, intelligent und weltgewandt – und ganz offensichtlich konnte sie ihn nicht leiden. Dass er die beste Partie war, die eine Frau sich nur wünschen konnte, schien sie nicht zu beeindrucken. Was gab es denn an ihm zu bemängeln?
Oder ging es gar nicht um ihn, sondern um jemand ganz anderen? Gab es vielleicht einen Mann in ihrem Leben, den sie so mochte, dass kein anderer neben ihm bestehen konnte? Sir George de Gramercie doch sicher nicht, aber vielleicht ein Jugendfreund aus der Zeit, als sie auf der Burg von Lady Katherine zur jungen Hofdame erzogen wurde?
Wenn er Sir Wilfrid einmal geschickt auf den Zahn fühlte, könnte er das vielleicht herausfinden. „Eure Nichte richtet ein eindrucksvolles Fest aus“, wandte er sich an seinen Gastgeber. „Ihr müsst sehr stolz auf sie sein.“
„Oh, das bin ich, das bin ich, sie ist ein zauberhaftes Kind, und dazu noch ausgesprochen klug!“
„Dann hatte sie sicher gute Lehrer.“
„Lady Katherine DuMonde hat sie zehn Jahre lang in ihrem Hause unterrichtet, eine außergewöhnliche Frau. Streng natürlich, sehr streng, aber wie man sieht, hat Giselle das nicht geschadet. Junge Menschen brauchen eine feste Hand und viel Disziplin. Wenn man sie schont, verdirbt man sie, nicht wahr, Sir Myles?“
„Ich vermute, Ihr würdet Euch in dieser Hinsicht gut mit meinem Vater verstehen“, erwiderte Buxton leise, doch der melancholische Unterton, mit dem er das sagte, entging dem älteren Mann. Sir Wilfrids Feingefühl und sein Gehör für Zwischentöne hatten nach dem Genuss des guten Weines ein wenig gelitten. „Hat Lady Katherine denn keine eigenen Kinder?“
„Nein, leider nicht. Die Arme ist sehr früh Witwe geworden, eigene Kinder blieben ihr versagt.“
„Also auch keine Söhne?“
„Bedauerlicherweise nein, ein Verlust für unser Königreich. Sie hätte gute Soldaten aus ihnen gemacht, schon in der Wiege hätte sie damit angefangen!“ Er hob den Kelch, als wolle er mit der unsichtbaren Lady Katherine auf alle ihre nicht geborenen Söhne anstoßen.
„Oder schon im Mutterleib!“, rief Sir Myles lachend, und Wutherton stimmte dröhnend mit ein. Seine Heiterkeit war derart ansteckend, dass Myles alle trüben Gedanken vergaß. Warum sollte er sich auch das Weihnachtsfest mit sinnlosen Grübeleien über seine trostlose Kindheit und die harten Strafen verderben, mit denen sein Vater ihn gequält hatte? Und darüber zu spekulieren, ob Lady Giselle ihr Herz an jemand anderen verloren hatte, brachte ihn auch nicht weiter. Er wollte eine Allianz mit Sir Wilfrid, wollte eine vermögende Frau heiraten, mit der er das Bett
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