Historical Weihnachtsband 1993
genug bekommen, und war gegangen.
Vier Jahre ist er nun schon fort. Seine Vorhersage hatte sich als weitaus realistischer erwiesen als alle optimistischen Sprüche, die den Südstaatlern damals so leicht über die Lippen kamen. Doch nun schien sich der Krieg langsam seinem Ende zu nähern.
Der Süden lag in Trümmern, unzählige Männer waren gefallen oder schwer verwundet, und Blythe Somers' Vater lebte nicht mehr. Auch Rafes zweiter Bruder war tot. Gotüob, daß Seth wenigstens bisher noch überlebt hatte, obwohl Blythe in den letzten Monaten des verzweifelten Widerstandes beständig um ihn gezittert hatte, doch mehr noch um Rafe.
„Wo bist du, Liebster?" flüsterte sie noch einmal. Trotz aller Schwierigkeiten, miteinander in Verbindung zu bleiben, hatte Blythe während der ersten beiden Jahre immer wieder von ihm gehört. Stets war es ihm gelungen, eine Möglichkeit dazu zu finden.
Seit zwei Jahren aber war die Verbindung völlig abgerissen. Blythe wußte nicht einmal, ob Rafe überhaupt noch lebte. Allerdings glaubte sie im tiefsten Herzen, daß sie es irgendwie gespürt hätte, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Sie standen einander zu nahe, daß sie es gewiß gefühlt hätte. Sie blickte auf den Ring, den sie niemals vom Finger genommen hatte. Jetzt war er das einzige Wertstück, das sie noch besaß. Eher hätte sie das letzte Hemd verkauft, als sich von ihm zu trennen, der ihr allein von Rafe geblieben war.
Nicht daran denken, sagte sie zu sich selber, besser überlegen, wie ich morgen den Kindern eine Weihnachtsfreude machen könnte! Sie richtete sich auf und wandte sich wieder der Arbeit zu, die sie vorhin unterbrochen hatte. In einer der Truhen im oberen Stockwerk hatte sich noch ein rotes Band finden lassen, mit dem sie die Fichtenzweige umwand. Das mochte dem Hause eine festliche Note verleihen, grau und trist, wie alles war.
Kurz vor Mitternacht hatte Blythe endlich ihre Arbeit fertig, ging in ihr Zimmer und holte die Geschenke aus dem Versteck, mit denen sie sich viel Mühe gegeben und die sie sorgsam vor den Kindern verborgen hatte. Viel ist es nicht gerade, dachte sie niedergeschlagen. Ein paar Schals, aus einem alten Mantel des Vaters geschnitten, zwei Stoffpuppen, die sie selbst gebastelt hatte, eine für Benji und die andere für Suzie. Am liebsten hätte Blythe wieder geweint, biß sich aber nur auf die Lippen. Sie besaßen so wenig, diese ihre Kinder, so schrecklich wenig.
Sie waren unter solch tragischen Umständen ins Haus gekommen, erst ein Kind, dann ein zweites, ein drittes, und nun scharten sich zehn Waisen um sie, die nicht wußten, wohin sie sonst hätten gehen sollen. Wie aber konnte Blythe weiter für sie alle sorgen, wie sie durchfüttern? Wenn Seth nicht gewesen wäre, hätten sie längst schon verhungern müssen.
Sie verteilte die Geschenke um den Kamin, damit sie die Kinder am Morgen gleich beim Herunterkommen finden würden. Nun hieß es noch die Kuchen backen, für die sie die allerletzten Äpfel gehortet hatte. Vor zwei Tagen hatte ihr Seth noch etwas Zucker gebracht, eine wahre Kostbarkeit in dieser Zeit. Mosbys Stoßtrupp zugeteilt, bekam Seth gelegentlich etwas von dem Proviant ab, wenn sie welchen bei einem Überfall auf die Yankees erbeuten konnten. Blythe wußte, daß er nichts davon für sich behielt, sondern ihnen alles weitergab.
Jetzt schwärmten die Yankees bereits seit längerem in der Gegend herum, trotzdem gelang es Mosbys Leuten immer wieder, durch die feindlichen Linien zu schlüpfen.
Und dann erschien eben Seth mit prall gefüllten Satteltaschen, spielte mit den Kindern, zauberte manches Lächeln auf die viel zu ernsten kleinen Gesichter und verschwand ebenso still und heimlich, wie er aufgetaucht war.
Blythe schlüpfte in einen alten Mantel, nahm eine Kerze und ging hinaus. Unter einer riesigen Eiche mit ausladendem Geäst lag ein Wassertrog in einer kleinen Mulde. Blythe stellte den Leuchter nieder und schob mit beiden Händen unter Aufbietung aller Kräfte, die ihr übermüdeter Körper noch aufbringen konnte, den Trog beiseite, so daß eine Öffnung in der Erde sichtbar wurde. Schnell hob Blythe die Kerze wieder auf und stieg hastig in den kalten und finsteren Keller, der ihnen nun als Versteck für die wenigen Lebensmittelvorräte diente, die ihnen noch geblieben waren. Seth hatte diesen Einfall gehabt, nachdem die Konföderierten einige Male auch hier aufgetaucht waren, um Proviant zu beschlagnahmen und den Leuten dann die wertlosen Banknoten
Weitere Kostenlose Bücher