Historical Weihnachtsband 1993
auch, daß sie sich nicht dem Schmerz überlassen konnte, ob Rafe noch am Leben war und wo er sich aufhalten mochte, wenn er noch nicht gefallen war. Es blieb ihr wenig Zeit, sich ihrer Einsamkeit bewußt zu werden, außer in den kurzen Augenblicken wie eben jetzt, wenn der Gedanke an Rafe übermächtig wurde. Anfangs hatte sie noch eine gewisse Ablehnung seitens der Nachbarn gespürt, als sie die Sklavenkinder ins Haus nahm, doch die meisten hatten selbst keine Leibeigenen gehalten und waren keine direkten Verfechter der Sklaverei.
Außerdem war jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, versuchte zu überleben und sich das Seine zu erhalten.
Blythe war in der gleichen Lage. Die Somers'sche Farm war zwar klein, doch sehr einträglich gewesen, vor allem wegen der Pferde, die Ben Somers züchtete. Er hatte nie viel von Sklaverei gehalten und auch nur zwei Freigelassene beschäftigt, die nach der Konfizierung der Tiere gingen, um in die Armee der Konföderierten einzutreten.
Danach hatten Blythe und ihr Vater nur mehr das eine Weizenfeld bearbeitet und den Küchengarten, bis Ben Somers an den Folgen des Lungenschusses der Yankees dahinsiechte und im vergangenen Jahre starb.
Nichts hätte sie sich so sehr gewünscht, als das Rad der Zeit zurückdrehen zu können. Aber da dies ganz unmöglich war, schalt sich Blythe in Gedanken selber und beschloß, aus dem, was ihr geblieben, das Beste zu machen. Immerhin war dies gar nicht so wenig. Sie besaß die Farm, hatte die Kinder und Seth. Eines Tages würde dann auch Rafe heimkehren. Das alles war viel mehr, als die meisten Menschen in den Südstaaten ihr eigen nennen konnten.
Der Teig nahm Form an, und sie machte sich an die Zubereitung der Füllung aus Zucker, Äpfeln und Zimt. Bald schon vermischte sich der Duft der Gewürze mit dem der Fichtenzweige, der aus der Wohnstube herüberzog, und Blythe schöpfte Hoffnung, empfand eine freudige Erregung, die trotz der schmerzlichen Ereignisse der letzten zwei Jahre nie ganz erloschen war, wenigstens nicht um diese Zeit.
Freilich kam ihre Weihnachtsstimmung diesmal ziemlich spät, aber deshalb würde es trotzdem ein gesegnetes Fest werden.
Gerade als sie die Füllung auf der Backmasse verteilte, hörte Blythe das leise Klopfen an der Haustür. Mit einer durch Jahre des Krieges erworbenen Vorsicht ergriff Blythe ihres Vaters Pistole und ging dann erst, um nachzuschauen, wer Einlaß begehrte. Zu viele unerwünschte Besucher hatten in den letzten Monaten draußen gestanden. Zwar wollte keiner in dieser Nacht aller Nächte abgewiesen werden, der eine Mahlzeit oder Unterkunft erbat, aber Blythe schaute stets erst durch das kleine Seitenfenster, wer draußen stand, bevor sie die Tür öffnete.
Seth! Es war Seth. Mit einem Arm hielt er seine Arzttasche, mit dem anderen stützte er einen Mann in Grau, dessen Uniformjacke blutüberströmt war.
„Die Yankees sind hinter uns her", stieß Seth hervor und atmete keuchend vor Anstrengung, während er sich bemühte, den Fremden aufrechtzuerhalten, der dem Zusammenbrechen nahe schien. „Wo können wir uns verstecken, im Keller?"
Blythe dachte nicht daran, kostbare Zeit durch Fragen zu vergeuden. Seth wäre kaum gekommen, wenn nicht eine zwingende Notwendigkeit bestanden hätte. Er war auch in der Vergangenheit immer bestrebt gewesen, Blythe aus allem herauszuhalten. Sie nahm den Kerzenleuchter und eilte voraus zu dem Wassertrog.
Seth führte den wankenden Offizier mit sich, während sie die geheime Tür aufstieß und die Stufen hinunterstieg. Unten angekommen, ließ Seth den Verwundeten behutsam zu Boden gleiten.
„Es ist General Massey", erklärte er und zog dem Mann die Uniformjacke mit geschickten Händen aus. „Die Yankees haben beachtliches Interesse, seiner habhaft zu werden. Er ist im Planungshauptquartier in Richmond gewesen. Von dort kam er, um Mosby zu treffen, und auf dem Rückweg nach Richmond gingen wir den Yankees etwas östlich von hier in eine Falle. Unsere Leute gaben uns Rückendeckung, damit wir zu unseren eigenen Linien kommen könnten. Aber er würde es nicht bis dahin schaffen, der Blutverlust ist zu groß."
„Du warst auf dem Wege nach Richmond?" Blythe blickte Seth erschrocken an.
„Man hat mich den Truppen dort zugeteilt, sie brauchen dringend Arzte. Ich hätte dir noch Nachricht geben lassen, mehr blieb mir nicht zu tun."
Ihr versagten die Beine fast den Dienst. Seth würde gehen, genau wie Rafe gegangen war. Aber sie war doch ganz auf Seth
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