HMJ06 - Das Ritual
weshalb sie hier ist und warum sie von so grenzenloser Wut erfüllt ist. Aber diese winzigen Stücke Treibgut auf dem konturlosen Meer ihrer Existenz liefern keine Antworten.
Und keinen Trost. Die Schnappschüsse aus ihrem vergangenen Leben und die Erinnerungen an die Freude, die sie in ihrer alltäglichen Existenz empfand, machen ihr das Gewicht und die Bedeutung dessen, was sie verloren hat, nur noch schmerzlicher bewusst.
Ihre Fähigkeiten aber haben zugenommen. Sie kann sich in der körperlichen Welt, die sie umgibt, manifestieren. Sie hat das heute schon einmal getan. Und sie kann sich zu Gehör bringen, allerdings nicht so, wie sie es sich wünscht. Sie kann nicht reden, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund kann sie singen. Warum ausgerechnet das? Und warum dieses Lied? Sie scheint sich zu erinnern, dass es ihr Lieblingslied war, kann sich aber nicht erklären, weshalb. Jetzt hasst sie dieses Lied.
Sie hasst alles. Alles und jeden.
Aber noch mehr hasst sie es, hier zu sein, als Schatten unter den Lebenden zu wandeln. Sie begreift, dass sie einst gelebt hat und jetzt tot ist. Und das hasst sie. Sie hasst alle Lebenden für das, was sie jetzt haben und sie nicht. Dass sie eine Vergangenheit, eine Gegenwart, eine Zukunft haben.
Das ist das Schlimmste. Sie hat keine Zukunft. Zumindest keine, die sie erkennen kann. Sie ist hier, sie ist jetzt, sie hat eine vage Absicht, einen Sinn, aber sobald der erfüllt ist, was geschieht dann mit ihr? Wird sie zurückgeschleudert in die Finsternis, oder muss sie hier ausharren … vergessen, alleine?
Sie treibt dahin … abwartend …
Zu nächtlicher Stunde
Charlie wachte in der Dunkelheit auf und lauschte.
War das …? Ja. Jemand weinte. Der Laut hallte im Flur wider. Ein Schluchzen wie von einem Kind.
Charlie konnte nicht entscheiden, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Er richtete sich auf und hörte genauer hin. Es war weniger ein Laut der Traurigkeit, eher ein Wimmern furchtbarer Angst und so ohne jede Hoffnung, dass es ihm das Herz zerriss.
Das ist kein richtiges Kind, dachte er. Es ist ein Geist, ein Dämon, der hierher gesandt wurde, um uns in die Irre zu führen.
Er zog sich die Laken über den Kopf und erschauerte trotz der Wärme und der Dunkelheit, die ihn einhüllten.
Dienstag
1
Gia wischte sich eine Träne aus dem Auge und legte den Hörer des Telefons auf dem Nachttisch auf.
Nachdem Jack ihr am Vortag noch von dem Kind erzählt hatte, das er gerettet hatte, hatte Gia an diesem Morgen als Erstes in Vickys Ferienlager angerufen, um sich zu vergewissern, dass dort alles in Ordnung war. Sie setzte großes Vertrauen in das Lager und sein Sicherheitssystem, sie vertraute auch den Betreuern, aber sie hatte dieses unstillbare Bedürfnis, die Stimme ihrer Tochter zu hören.
Der Direktor hatte ihr mitgeteilt, dass Vicky und die anderen Kinder gerade frühstückten. Ob ein Notfall vorliege? Nein, bestellen Sie ihr nur, sie solle ihre Mutter kurz anrufen, wenn sie fertig ist.
Gia hatte die nächsten zehn Minuten damit verbracht, über Kinderschänder nachzudenken und darüber, dass die Qualen, die sie ihren kleinen Opfern bereiteten, hundert-, nein, tausendfach auf sie zurückfallen sollten.
Der Anruf erfolgte, während sie das Bett machte. Vicky ging es gut, bestens, einfach wunderbar, sie habe den Spaß ihres Lebens und wolle ihr von dem Nilpferd erzählen, das sie in ihrem Tonmodellierkurs angefertigt hatte. Sie erzählte, wie sie angefangen hätte, ein Pony zu formen, doch die Beine konnten das Pony nicht aufrecht halten, da sie seinen Körper nicht richtig hinbekommen hätte, und so hätte sie die Beine dicker und dicker gemacht und gleichzeitig immer mehr verkürzt, bis das Pferd stehen konnte, ohne zu schwanken oder gar umzukippen. Aber da hätte es ausgesehen wie das fetteste Pferd der Welt. Darum, anstatt das Gebilde weiter als Pferd zu bezeichnen, erzählte sie allen, sie hätte ein Nilpferd gebastelt. Ist das nicht lustig, Mom?
Das war es. Nämlich so lustig, dass Gia kaum hatte verhindern können, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
Herrgott im Himmel, wie sehr vermisste sie ihr kleines Mädchen.
Gia konnte sich nicht entsinnen,
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