HMJ06 - Das Ritual
höchstwahrscheinlich war es in der Schule aufgenommen worden – sah er wieder seinen kleinen schlaffen Körper vor sich, eingerollt in eine nasse Decke.
»Sie nennt sich eine gute Mutter? Sie sollte ihr Kind beschützen, anstatt es in Gefahr zu bringen. Eigentlich sollte man eine Prüfung ablegen, ehe sie einem gestatten, ein Kind zu bekommen. Der Typ schießt ein paar Millionen Spermien ab, und eines trifft auf eine Eizelle, und peng! – ein Baby. Aber sind die beiden Erwachsenen überhaupt fähig, ein Kind großzuziehen? Wer weiß das schon? Kinder zu haben, bedeutet eine Riesenverantwortung. Die sollte man ausschließlich Leuten anvertrauen, die fähig sind, diese Verantwortung auch zu tragen.«
Hör dir bloß mal zu, dachte er. Du fängst an, Phrasen zu dreschen. Aufhören.
Er schaute hoch und sah, dass Abe ihn verwundert anstarrte.
»Nu? Gibt es da etwas, das mir entgangen ist? Was soll dieses Gefasel von Verantwortung und Prüfungen, um Kinder kriegen zu dürfen?«
Jack überlegte, ob er Abe erzählen sollte, was los war. Dann entschied er, dass er das einfach tun musste. Wie könnte er auch nicht? Er wusste, dass diese Information nicht die Runde machen würde. Abe war so verschwiegen wie ein Grab.
»Ich werde Vater.«
»Du? Vater?« Abe grinste und wischte sich die rechte Hand an seiner Schürze ab, ehe er sie über die Theke streckte. »Mazel tov! Wann hast du es erfahren?«
Jack ergriff die Hand, die vom Lachs immer noch fettig war. »Gestern Nachmittag.«
»Und Gia? Gefällt ihr die Aussicht, der Welt ein Kind aufzubürden, das die Hälfte deiner Erbanlagen in sich trägt?«
»Dass sie ein Kind bekommt, findet sie ganz okay. Wir haben nur Probleme damit, welche Vaterrolle ich spielen soll. Oder kann.«
»Du ein guter Vater? Kann es da auch nur den geringsten Zweifel geben? Sieh dir doch nur das Training an, das du bereits mit Vicky absolvierst. Sie ist doch für dich wie eine leibliche Tochter.«
»Ja, sicher, aber da gibt es auch noch gewisse rechtliche Angelegenheiten, die ich regeln muss.«
Er erläuterte sie ausführlich, während Abe sein Brötchen verzehrte und ein zweites zubereitete.
»Sie klingt ganz vernünftig, deine Gia«, stellte Abe fest, nachdem Jack geendet hatte. »Das muss man ihr lassen. Aber ich glaube, ich erlebe in Kürze das Ende der Ära von Handyman Jack.«
Jack krümmte sich innerlich, als er es so klar ausgedrückt hörte. Aber …
»Ich denke, das ist genau das, worauf es letztlich hinausläuft.«
»Bürger Jack«, sagte Abe kopfschüttelnd. »Das klingt nicht ganz so reizvoll wie Handyman Jack.«
Jack zuckte die Achseln. »Der Name war sowieso nicht meine Idee. Du warst es, der mich als Erster so genannt hat.«
»Und jetzt muss ich auch damit aufhören. Wann wirst du Bürger Jack?«
»Zuerst einmal muss ich mir darüber klar werden, wie es geschehen soll. Hast du eine Idee?«
Abe schüttelte den Kopf. »Das ist ein schwieriges Problem. Dich zu einem unbescholtenen Bürger zu machen – ohne irgendwelchen illegalen Ballast … das wird uns noch einiges Kopfzerbrechen bereiten.«
Er schnitt sein zweites Schmelzkäse-Lachs-Brötchen in zwei Hälften und reichte eine davon Jack.
Der nahm einen Bissen und ließ sich die Mischung verschiedenster Aromen auf der Zunge zergehen. Dabei entspannte er sich ein wenig. Zu wissen, dass jemand anders sich an der Lösung dieses Problems aktiv beteiligte, erleichterte die Last, die auf seinen Schultern lag, um einiges.
»Während du nachdenkst«, sagte er, »rufe ich Eli Bellittos Bruder an und mache ihm die Hölle heiß.«
Jack war, nachdem Doc Hargus ihn versorgt hatte, sofort zu Gia gefahren. An diesem Morgen hatte er dann auf dem Weg zu Abe einen Abstecher zu seiner Wohnung gemacht und Edward Bellittos Nummer geholt. Er fischte das Tracfone und den Notizzettel aus seiner Jeans, begann zu wählen, dann …
»Verdammt noch mal …«
»Was ist jetzt los?«
»Er hat nur neun Ziffern aufgeschrieben.«
Jack starrte auf den Fetzen Papier. Edward hatte keine Bindestriche eingefügt, sondern die Zahlen in einer Reihe hingekritzelt. Jack war es bis zu diesem Moment nicht aufgefallen, dass man ihn glatt um eine Ziffer betrogen hatte.
Abe beugte sich vor und blickte auf den Zettel. »Eine zwei-eins-zwei als Bezirksvorwahl – das ist ein Anschluss hier in der City. Vielleicht hatte er es eilig, oder er war ein wenig durcheinander wegen der Sorge um seinen Bruder, so dass er die letzte Ziffer einfach vergessen hat. In
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