Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
Vom Netzwerk:
werden.
    Nein, er brauchte jemanden, der diskret war und sich mit solchen Bauten auskannte und ihm erklären konnte, was hier nicht stimmte und wie es in Ordnung zu bringen war. Aber er war erst seit zehn Monaten in der Stadt und …
    »Lieber Gott!«, brüllte Charlie plötzlich los und hielt sich Mund und Nase zu. »Was ist das?«
    Lyle brauchte nicht zu fragen. Er würgte, als der Gestank ihn traf. Er riss ihn hoch auf die Füße und ließ ihn zur Treppe taumeln. Charlie war dicht hinter ihm, als er ins Parterre hochstürmte und die Tür hinter sich zuschlug.
    Lyle blieb in der Küche stehen und starrte seinen Bruder keuchend an. »Wir sitzen offenbar genau über einem Abwasserkanal.«
    Charlie erwiderte den Blick. »Ein Kanal, der durch einen Friedhof führt. Hast du schon mal einen so schlimmen Gestank gerochen? Auch nur annähernd?«
    Lyle schüttelte den Kopf. »Niemals.« Er hätte niemals damit gerechnet, dass irgendetwas derart ekelhaft riechen konnte. »Was kommt als Nächstes? Ein Meteor, der ins Dach einschlägt?«
    »Ich sage dir, Lyle, der Herr hat uns auf dem Kieker.«
    »Mit einer Stinkbombe? Das glaube ich nicht.«
    Obgleich der Gestank nicht bis in die Küche vorgedrungen war, wollte Lyle kein Risiko eingehen. Er und Charlie stopften nasse Papierhandtücher in die Lücke zwischen Tür und Fußboden.
    Als sie das erledigt hatten, ging Lyle zum Kühlschrank und holte eine Heineken-Fassdose heraus. Eine 22-oz.-Dose Schlitz ML hätte ihm im Augenblick zwar gereicht, aber das war viel zu ordinär.
    »Du willst dich doch nicht etwa besaufen?«, fragte Charlie.
    Lyle reichte Charlie eine frische Pepsi. »Wann hast du mich das letzte Mal besoffen erlebt?«
    »Wann hat das letzte Mal ein Erdbeben einen bodenlosen Schacht unter unserem Haus aufgebrochen?«
    »Gutes Argument.« Er trank einen tiefen Schluck aus der Dose und wechselte das Thema. »Übrigens, einer der Typen in Moonies Begleitung hat heute Nacht versucht, irgendein Ding zu drehen, und ich meine nicht Mr. Quadratwurzel.«
    »Dieser Bauarbeiter-Typ?«, fragte Charlie und nahm seine Wanderung wieder auf.
    »Bauarbeiter Jack, wenn wir ihm tatsächlich den Namen abnehmen, den er aufgeschrieben hat – ich wusste von Anfang an, dass er Ärger bedeutet. Er hat gehört, wie ich dich mit deinem richtigen Namen rief, als wir das Haus verließen, und er wollte wissen, weshalb ich ›Bombe‹ brüllte, als das Erdbeben ausbrach. Ich habe ihn danach im Auge behalten. Ihm ist wirklich kein Trick entgangen. Er hat jede deiner Bewegungen beobachtet – und dann meine. Nur gut, dass ich ihn im Auge hatte, sonst wäre mir wahrscheinlich entgangen, wie er eine Ecke von der Karte abriss.«
    »Deshalb hast du sie an der oberen Ecke festgehalten. Du hältst sie doch normalerweise am unteren Rand in der Mitte fest.« Charlie runzelte die Stirn. »Meinst du, er ist hier, um uns zu ärgern?«
    Lyle schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte den Eindruck, dass er noch nicht einmal hier sein wollte. Ich denke, er hatte bloß Langeweile und hat sich deshalb ein Späßchen mit mir erlaubt. Er wusste genau, was ich tat, aber er blieb ganz cool. Er saß nur da und ließ die Show ablaufen.«
    Lyle wanderte ins Wartezimmer. Charlie folgte ihm und sagte: »Vielleicht ist er einer von uns und kommt von der Konkurrenz.«
    »Das glaube ich nicht. Der treibt ein ganz anderes Spiel, aber frag mich nicht, welches.« Lyle hatte instinktiv gespürt, dass hinter den milden braunen Augen des weißen Typen irgendetwas lauerte, etwas, das sagte: Komm mir bloß nicht in die Quere. »Vielleicht ist er auf einem ganz eigenen Trip.«
    Lyle war stolz auf seine Fähigkeit, die Menschen durchschauen zu können. Daran war nichts Übersinnliches, es hatte nichts mit Geistern zu tun, sondern es war etwas, das er beherrschte, so lange er sich erinnern konnte. Ein Talent, das er gepflegt und ständig verfeinert hatte.
    Dieses Talent hatte festgestellt, dass der Besucher namens Jack nur sehr schwer einzuschätzen war. Ein durchschnittlich aussehender Knabe; keine besondere oder auffällige Kleidung, braunes Haar, freundliche braune Augen, nicht attraktiv, nicht hässlich, lediglich … anwesend. Aber er hatte sich mit verhaltener Eleganz und selbstverständlicher Selbstsicherheit innerhalb eines fast undurchdringlichen Schirms bewegt. Das Einzige, das Lyle außer der unausgesprochenen Warnung, ihn in Ruhe zu lassen, bei ihm gespürt hatte, war eine tiefe Melancholie gewesen. Als er dann seine Frage las

Weitere Kostenlose Bücher