HMJ06 - Das Ritual
leichtgläubig?«
»Ärgere dich nicht. Du bist in bester Gesellschaft. Ich wette, Millionen ist es schon wie dir gegangen. Dieser Trick funktioniert seit über zweihundert Jahren. Wahrscheinlich stammt er aus der Jahrmarktshow eines Gedankenlesers. Danach haben die Spiritisten ihn aufgegriffen und machen seitdem gute Geschäfte damit.«
»Also ist Ifasen ein falsches Medium.«
»Es gibt kein richtiges.«
»Wie kommt es, dass du so gut darüber Bescheid weißt?«
Jack zuckte die Achseln, vermied es jedoch, sie anzusehen. »Man schnappt gelegentlich das ein oder andere auf.«
»Du hast mir mal erzählt, du hättest früher einem Spiritisten geholfen. War das einer deiner Kunden?«
»Nein. Ich habe mal für einen gearbeitet, als Helfer. Mein Job ähnelte dem von Kehinde, und zwar auf und hinter der Bühne.«
»Tatsächlich!« Das hätte sie nie vermutet. »Wann war das?«
»Schon lange her. Ich kam damals gerade in die Stadt.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ist auch nicht gerade etwas, worauf ich besonders stolz bin.«
Gia lachte. »Jack, ich kann das kaum glauben. Nach all den Dingen, die du seitdem getan hast …«
Sie bemerkte seinen Blick, ehe er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. Er schwieg, doch dieser Blick sagte alles: Du hast keine Ahnung von den Dingen, die ich mal getan habe. Aber auch nicht andeutungsweise.
Wie wahr. Und Gia war es auch lieber so. Der Jack, den sie fast täglich sah, war ausgeglichen und gutmütig, zärtlich und zuvorkommend im Bett – und er behandelte Vicky wie seine eigene Tochter. Aber sie wusste, dass es bei ihm auch eine andere Seite gab. Sie hatte sie nur einmal erlebt. Das war damals gewesen, als …
Lag das schon ein Jahr zurück? Ja. Es war im letzten August, als diese widerwärtige Kreatur Vicky entführt hatte. Sie sah immer noch Jacks Miene vor sich, als er davon erfuhr, wie sie sich veränderte, wie er die Zähne fletschte, wie seine sonst so sanft und freundlich blickenden Augen plötzlich ausdruckslos und hart wurden. Damals hatte sie in das kalte, harte Gesicht eines Mörders geblickt. Es war ein Gesicht, das sie nie wieder sehen wollte.
Kusum Bahkti, der Mann, dessen Fährte Jack in jener Nacht gefolgt war … Er verschwand danach vom Antlitz der Erde, als hätte er niemals existiert.
Jack hatte ihn getötet. Gia wusste das, und, Gott helfe ihr, sie war darüber froh gewesen. Sie war noch immer froh. Jeder, der ihrem kleinen Mädchen etwas antun wollte, verdiente es zu sterben.
Kusum war nicht der Einzige, den Jack getötet hatte. Gia wusste mit Sicherheit von einem anderen: Es war der Massenmörder, den er während seines Amoklaufs in der U-Bahn damals im Juni gestoppt hatte. Für eine Weile war der geheimnisvolle »Erlöser« das gefundene Fressen für alle Medien gewesen, aber die Aufregung hatte sich mittlerweile gelegt.
Gia war überzeugt, dass es noch weitere Tote gab. Sie wusste es nicht mit letzter Sicherheit, aber es war eine einleuchtende Schlussfolgerung. Schließlich verdiente Jack seinen Lebensunterhalt damit, dass er Probleme für Menschen löste, deren herkömmliche Möglichkeiten erschöpft waren. Wenn so etwas geschah, begaben sich einige in den Untergrund, um dort nach einer Lösung zu suchen. Am Ende landeten ein paar von ihnen bei Jack.
Demnach waren Jacks Kunden – er bestand darauf, sie Kunden zu nennen, nicht Klienten – kaum die Creme der Gesellschaft. Und um ihre Probleme zu lösen, musste er sich mit einigem Abschaum herumschlagen, Leuten, die bereit waren zu töten, um Jack daran zu hindern, seinen Job zu erledigen. Da Jack immer noch am Leben war, musste sie annehmen, dass einige von seinen Widersachern es nicht mehr waren.
All dies waren keine besonders angenehmen Gedanken, und Gia zog es vor, sie weit von sich wegzuschieben, damit sie sich nicht damit auseinander setzen musste. Sie liebte Jack, aber sie hasste das, was er tat. Als sie aus dem Bus stieg, mit dem sie von Iowa hierher gekommen war, um ihren Traum, eine Künstlerin zu sein, zu verwirklichen, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass es einen Menschen wie Jack geben konnte, geschweige denn dass sie in eine engere Beziehung zu ihm treten würde. Sie war eine Steuern zahlende, die Gesetze beachtende Bürgerin. Er war es nicht.
Und schließlich hatte sie sich der Tatsache stellen müssen: Sie liebte einen Kriminellen. Er stand nicht auf der FBI-Liste der zehn dringendst gesuchten Personen oder auf irgendeiner anderen Suchliste – denn niemand von den
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