HMJ06 - Das Ritual
selten, aus ihren Babysittern zusätzliche Stunden vor dem Fernseher herauszukitzeln.
Jack seufzte dramatisch. »Schon wieder eine Nacht im Zölibat.«
Gia lehnte sich an ihn und knabberte an seinem Ohrläppchen. »Aber es ist die letzte für die nächste Woche. Hast du vergessen, dass Vicky morgen ins Jugendlager fährt?«
Gia selbst hatte tatsächlich versucht, es zu vergessen. Sie hasste die Woche, die Vicky im vergangenen Sommer im Lager gewesen war – es waren die sieben einsamsten Tage des Jahres –, und fürchtete sich vor der Abfahrt am nächsten Tag.
»Das habe ich. Völlig. Mir ist klar, dass du sie schrecklich vermissen wirst, ich übrigens auch, aber ich weiß genau das Richtige, um den Trennungsschmerz zu lindern.«
Gia lächelte und wickelte sich eine von Jacks Haarsträhnen um den Finger. »Und was wäre das, wenn ich fragen darf?«
»Das ist bis morgen Abend mein Geheimnis.«
»Ich kann es kaum erwarten. Und da wir gerade von Geheimnissen sprechen, was ist Ifasens Geheimnis?«
»Nein, nein«, wehrte Jack ab. »Erst will ich die Frage hören, die du gestellt hast. Wenn ›zwei‹ die Antwort war, wie lautete dann die Frage?«
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt schämte sie sich ein wenig. Wenn ihr doch nur erspart bliebe zu offenbaren, was sie hatte wissen wollen …
»Du zuerst. Verrat mir mal, wie dieser Mann Antworten geben kann, wenn er die Fragen gar nicht kennt.«
»Bist du sicher, dass du es wissen willst?«, fragte Jack und musterte sie mit einem skeptischen Lächeln von der Seite.
Ein Lächeln von Jack … Es war seit Kates Tod so selten geworden. Sie vermisste es schmerzlich.
»Warum sollte ich es nicht wollen?«
»Es könnte dir den ganzen Spaß verderben.«
»Ich kann die Wahrheit vertragen. Na los doch, wie macht er es?«
»Im Großen und Ganzen fast genauso, wie Johnny Carson es machte, als er seine Karnak-der-Prächtige-Nummer abzog.«
»Aber er hat von Texttafeln abgelesen.«
»Genau. Und genau das hat in gewisser Weise Ifasen auch getan.«
Gia schüttelte verblüfft den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Wir haben die Umschläge zugeklebt. Wir haben gehört, wie er die Antwort gab, wir haben gesehen, wie er den Umschlag öffnete und die Frage vorlas.«
»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie erscheinen.«
»Ich weiß aber, dass nur ich wusste und wissen konnte, was auf meiner Karte stand.«
»Aber nicht mehr, nachdem sein Bruder Kehinde sich eingeschaltet hatte.«
»Kehinde? Aber er …«
»War nicht mehr als ein Helfer, ein Faktotum? Genau das solltest du denken. Dabei hatte Kehinde sogar die Schlüsselstellung. Ifasen hat zwar die ganze Show in Szene gesetzt, aber das hätte er niemals ohne die Hilfe seines Bruders tun können. Die Methode heißt ›Eins voraus‹. Versuch, dich zu erinnern: Gleich nachdem Kehinde die verschlossenen Umschläge eingesammelt hatte, ging er mit der Schüssel zum hinteren Rand des Podiums und hat dort dramatisch mit dem Tuch herumgewedelt. Das ist der entscheidende Moment. Denn während du glaubst, dass er nur mit dem Tuch zugange ist, öffnet er einen der Umschläge und holt die Karte heraus – oder das Billett, wie die Spiritisten es nennen. Gleichzeitig legte er einen markierten Umschlag mit einer leeren Karte darin in die Schüssel.«
»Warum?«
»Denk doch nach. Wenn Ifasen – übrigens, wenn das sein richtiger Name ist, dann heiße ich Richard Nixon –, also wenn er das weiße Tuch von der Schüssel nimmt, liest er die Frage auf der Karte, die Kehinde für ihn herausgeholt hat. Dann ergreift er einen der geschlossenen Umschläge und hebt ihn hoch. Aber er beantwortet nicht die Frage in dem geschlossenen Umschlag, sondern die Frage auf der Karte in der Schüssel.«
»Jetzt verstehe ich!«, sagte Gia. Sie musste lachen, als ihr klar wurde, wie simpel der Trick im Grunde war. »Nachdem er die Frage in der Schüssel beantwortet hat, reißt er den Umschlag auf und tut so, als lese er die Frage, die er gerade beantwortet hat. Dabei sieht er schon die nächste Frage.«
»Genau. Und für den Rest der Show ist er immer einen Umschlag voraus – woher die Methode den Namen hat.«
»Und die leere Karte in dem markierten Umschlag sorgt dafür, dass Ifasen nachher kein Umschlag fehlt.« Sie schüttelte verblüfft den Kopf. »Es ist wirklich so simpel.«
»Das sind die besten Tricks immer.«
Gia konnte ihren aufkommenden Ärger, so leicht hinters Licht geführt worden zu sein, nicht verbergen. »Bin ich tatsächlich so
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