HMJ06 - Das Ritual
– »Wie geht es meiner Schwester?« –, hatten sich Lyles »berufliche« Instinkte sofort gemeldet. Besagte Schwester konnte erst kürzlich verstorben sein.
Wenn die Reaktion der Frau in seiner Begleitung so etwas wie ein Indikator war, dann hatte Lyle einen Volltreffer gelandet.
»Aber wir sind heil rausgekommen. Wir haben vielleicht sogar ein oder zwei weitere Fische für die Zukunft an der Angel. Hinzu kommt, dass Moonie, nachdem sie ihr lange verloren geglaubtes Armband genau dort findet, wo ich es ihr beschrieben habe, mich überall in den höchsten Tönen loben wird.«
Charlie setzte sich an das Klavier, das zur Einrichtung des Hauses gehörte, und schlug auf die Tasten. »Ich wünschte, ich könnte spielen.«
»Nimm Klavierstunden«, riet ihm Lyle, während er zum vorderen Panoramafenster schlenderte.
Er zog den Vorhang gerade so weit zurück, dass man das Einschussloch mit seinem Netz aus haarfeinen Sprüngen mitten in der Scheibe sehen konnte. Ehe er es mit durchsichtigem Gummiklebstoff ausgefüllt hatte, hatte er einen Bleistift durch das Loch gesteckt. So klein und doch so tödlich. Zum tausendsten Mal fragte er sich …
Eine Bewegung rechts von ihm fiel ihm ins Auge. Was? Verdammt noch mal! Jemand war da draußen!
»Hey!«, brüllte er, als auflodernde Wut ihn zur Eingangstür trieb.
»Was ist los?«, fragte Charlie.
»Wir haben Besuch!« Lyle riss die Tür auf und sprang hinaus auf die Vorderveranda. »Hey!«, rief er abermals, als er eine dunkle Gestalt entdeckte, die über den Rasen rannte.
Lyle sprintete hinter dem Kerl her. Irgendwo in seinem Gehirn hörte er leise Warnrufe wie Gefahr! und Achtung, Schusswaffe! Doch er ignorierte sie. Sein Blut kochte. Es bestand durchaus die Chance, dass dies der Kerl war, der auf sie geschossen hatte, doch jetzt saß er nicht in einem Auto, und er schoss nicht, nein, er rannte, und Lyle wollte ihn sich kaufen.
Der Kerl schleppte etwas. Es sah aus wie ein großer Kanister. Er blickte über die Schulter. Lyle nahm einen Schimmer bleicher Haut wahr, dann schleuderte der Kerl den Kanister in Lyles Richtung. Weit flog er nicht – nicht mehr als zwei, drei Meter – und landete mit einem metallischen Klirren auf dem Erdboden und rollte noch ein Stück. Von seiner Last befreit, konnte der Unbekannte jetzt an Tempo zulegen und erreichte den Bürgersteig weit vor Lyle, wo er in einen Wagen sprang, der sich bereits in Bewegung setzte, ehe die Tür geschlossen wurde.
Lyle gelangte zum Bürgersteig und rang nach Luft. Er war völlig außer Form. Charlie tauchte neben ihm auf. Auch er war außer Atem, aber nicht so sehr wie sein großer Bruder.
»Hast du sein Gesicht gesehen?«
»Nicht gut genug, um es zu erkennen. Aber er ist ein Weißer.«
»Hab ich mir gedacht.«
Lyle machte kehrt und ging zurück. »Mal sehen, was er uns dagelassen hat.«
Neben dem Objekt ging er in die Knie und drehte es um. Es war ein Benzinkanister.
»Scheiße!«
»Was wollte er damit? Ein Flammenkreuz anzünden? Wie zu alten Ku-Klux-Klan-Zeiten?«
»Das bezweifle ich.« Weiße waren in dieser Straße deutlich in der Minderheit. Dass ein weiterer dunkelhäutiger Nachbar einzog, wurde nicht als außergewöhnliches Ereignis betrachtet. »Hier geht es ums Geschäft und um unerwünschte Konkurrenz. Er hatte eindeutig die Absicht, uns auszuräuchern.«
Er erhob sich, versetzte dem Kanister einen Tritt, so dass er ein Stück über den Rasen rutschte. Die New Yorker Spiritistenszene hatte eine überschaubare Zahl von Mitgliedern. Einer von ihnen musste dies hier eingefädelt haben. Er brauchte nur herauszufinden, wer.
Aber wie?
4
»Na schön«, sagte Gia. »Jetzt sind wir endlich allein. Verrate mir, wie Ifasen das Ganze inszeniert hat.«
Seit sie das Haus des Spiritisten verlassen hatten, wollte sie es unbedingt wissen, doch sie mussten vorher Junie nach Hause fahren. Da Karyn und Claude ebenfalls auf der Lower East Side wohnten, waren sie mitgekommen. Jack hatte alle drei vor Junies Apartmenthaus abgesetzt und war nun mit Gia auf der First Avenue zu den Außenbezirken unterwegs.
Trotz der späten Stunde kamen sie nur langsam voran. Gia machte das nichts aus. Zeit mit Jack war nie vergeudete Zeit.
»Lass uns erst entscheiden, wo es hingehen soll«, sagte Jack. »Zu dir oder zu mir?«
Gia schaute auf die Uhr. »Ich fürchte, zu mir. Die Babysitterin hat gleich Feierabend.«
Vicky, ihre achtjährige Tochter, wäre bestimmt immer noch wach. Sie versäumte es nur
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