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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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den Kopf. Er hatte Jahre gebraucht, um den Straßenjargon aus seiner Sprache zu verbannen, doch ab und zu, wie Unkraut, machte er sich in dem gepflegten Sermon bemerkbar, den er im Laufe der Zeit kultiviert hatte. Ifasens Akzent war die alte Dritte Welt, seine Dreadlocks dagegen signalisierten die neue Dritte Welt. Ifasen war ein internationaler Mann, der keinerlei Grenzen akzeptierte – nicht zwischen den Rassen, nicht zwischen den Nationen, noch nicht einmal zwischen Leben und Tod.
    Aber die Dritte Welt war der Schlüssel. Die wohlhabenden, weißen New-Age-Heinis, die die Kundschaft ausmachten, auf die Lyle so scharf war, glaubten, dass nur primitive und alte Zivilisationen den Zugang zu den ewigen Wahrheiten hatten, die von der Technologiehörigkeit der westlichen, post-industriellen Gesellschaft verschüttet worden waren. Sie glaubten so gut wie alles, was ihnen ein Ostafrikaner namens Ifasen auftischte, würden es aber als kompletten Unfug verwerfen, käme es aus dem Mund eines Lyle Kenton aus den Westwood-Park-Slums in Detroit.
    Lyle hatte nichts gegen diese Schauspielerei, aber Charlie wollte nicht mitmachen und weigerte sich, das zu werden, was er einen »Oreo« nannte. Also spielte er bei der Nummer den stummen Partner. Wenigstens ließ er sich zu einer Verkleidung als Kehinde überreden. In der Auswahl sich selbst überlassen, staffierte er sich mit einer dicken Goldkette, offenen hohen Turnschuhen und einer nach hinten gedrehten Baseballmütze der Tigers aus. Ein wiedergeborener Hip-Hopper.
    Lyle zuckte zusammen und kleckerte sich Bier auf die Hose, als das Telefon klingelte. Mann, seine Nerven waren verdammt angegriffen. Er las die Anruferidentifikation auf dem Display: Michigan. Er nahm den Hörer ab.
    »Hey, Süße. Ich dachte, du sitzt längst im Flieger.«
    Kareena Hawkins’ samtene Stimme schlängelte sich aus der Hörmuschel. Der Klang weckte bei Lyle lustvolle Fantasien. »Ich wünschte, es wäre so. Aber die Promotionparty heute hat viel länger gedauert, und jetzt ist die letzte Maschine weg.«
    Er vermisste Kareena. Sie leitete die PR-Abteilung eines Rap-Senders in Dearborn. Mit achtundzwanzig war sie zwei Jahre jünger als Lyle. Sie waren praktisch unzertrennlich gewesen, ehe er in den Osten ging, und führten seit zehn Monaten eine Telefonbeziehung. Geplant war, dass Kareena ebenfalls in den Osten kam und bei einem New Yorker Rundfunksender anfing.
    »Dann nimm die Morgenmaschine.«
    Er hörte sie gähnen. »Ich bin groggy, Lyle. Ich glaube, ich schlafe mich lieber aus.«
    Lyle konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Komm schon, Kareena. Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen.«
    »Nächstes Wochenende sieht es besser aus. Ich ruf dich morgen an.«
    Lyle versuchte noch ein paar Minuten lang, sie zu überreden, aber ohne Erfolg. Schließlich beendeten sie das Gespräch. Er saß einen Moment lang da, starrte auf eins der billigen Gemälde an der Wand und fühlte sich lausig.
    Charlie meinte: »Ich vermute, Kareena schafft es nicht, oder?«
    »Nee. Zu müde. Ihr Job ist …«
    »Ich sage es ungern, Bruder, aber sie macht dir was vor.«
    »Niemals. Red nicht solchen Quatsch.«
    Charlie zuckte die Achseln und machte eine Bewegung, als würde er seine Lippen mit einem Reißverschluss verschließen.
    Lyle wollte es nicht zugeben, doch ihm war schon der gleiche Verdacht gekommen. Er hatte mehr und mehr den Eindruck, dass Kareena trotz ihrer anfänglichen Begeisterung, etwas für ihre Karriere zu tun, immer weniger von der Idee hielt, ihr gemütliches Plätzchen in Dearborn zu verlassen und auf dem New Yorker Markt ihr Glück zu versuchen. Und jetzt schickte sie sich an, auch ihn von ihrer Liste zu streichen.
    Da gab es nur eins zu tun: sich in der nächsten Woche ein paar Tage frei nehmen und westwärts fliegen. Sich mit ihr zusammensetzen, mit ihr reden, ihr zeigen, wie wichtig sie ihm war und dass sie ihn unmöglich verlassen durfte.
    Er sah Charlie an und sagte: »Komm, wir schauen mal im Keller nach.«
    Charlie nickte nur.
    Lyle ging voraus ins Parterre, durch die altmodische Küche mit Linoleumfußboden und die Kellertreppe hinunter. Er knipste die Beleuchtung an, blieb stehen und riss die Augen auf.
    »Heiliger …« Als ihm bewusst wurde, dass Charlie dicht hinter ihm stand, verschluckte er den Rest, dann sagte er: » …Strohsack.«
    Nach den Äußerungen des Immobilienmaklers, der ihnen das Haus verkauft hatte, war der Keller von einem vorherigen Besitzer, dem vorletzten Bewohner vor

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