HMJ06 - Das Ritual
ausgeliefert war.
»Vielleicht tut es das«, sagte Adrian. »Aber die Frage drängt sich doch auf, nicht wahr?«
Ja, dachte Eli. Das tut sie.
Er begriff, dass das Einzige, das dieses wachsende Unbehagen und die Unsicherheit lindern würde, eine weitere Zeremonie zur Stärkung seiner Abwehrkräfte wäre.
»Vergessen wir«, sagte er, »einstweilen die Lämmer der Vergangenheit, und konzentrieren wir uns stattdessen auf ein Lamm in der Gegenwart.« Er warf Strauss einen kurzen Seitenblick zu. »Gibt es irgendwelche Fortschritte im Zusammenhang mit Ms. DiLauros Kind, Freddy?«
»Einige. Ich habe heute für einige Zeit ihr Zuhause beobachtet.« Er lachte. »Ich trug meine alte blaue Uniform – sie passt mir immer noch, wissen Sie – und habe geklingelt, nachdem ich gesehen hatte, dass sie allein rausgegangen ist. Ich dachte, wenn die Kleine da ist, ziehe ich die alte Deine-Mammi-hatte-einen-Unfall-Nummer ab. Aber sie war nicht zu Haus. Vom Dienstmädchen eines Nachbarn erfuhr ich, dass sie zur Zeit in einem Ferienlager ist.«
»Tatsächlich?« Eli verspürte einen ersten Hoffnungsschimmer.
»Warum bist du ausgerechnet auf sie so scharf?«, wollte Adrian wissen. »Wir können uns doch jedes beliebige Kind holen …«
»Wir haben uns nur deshalb so lange halten können, weil wir kein Risiko eingehen. Diese Situation bietet interessante Möglichkeiten. Überlegt doch mal: Ein Mädchen verschwindet aus einem Ferienlager im Wald, und das Erste, was jeder annimmt, ist, dass sie sich verlaufen hat. Sie vergeuden wertvolle Zeit mit der Suche nach ihr, während sie schon bewusstlos in einem Automobil liegt, unterwegs in die City …«
»Das ist richtig.« Adrian nickte. »In welchem Ferienlager?«
»Das ist das Problem. Dieses Dienstmädchen wusste es nicht.«
Adrian stöhnte. »Wissen Sie, wie viele Ferienlager es hier in der Tristate-Region gibt? Wir finden sie nie.«
Eli wurde mutlos. Adrian hatte Recht. Es gab Hunderte, wenn nicht gar Tausende.
Strauss schlug mit der flachen Hand auf die Rückenlehne des Vordersitzes. »Sagen Sie niemals nie, mein Freund. Ich werde mich der Angelegenheit annehmen. Williamson habe ich schon darauf angesetzt. Er dürfte die Spur der kleinen Victoria Westphalen morgen aufnehmen.«
Wesley Williamson war ein langjähriges Mitglied des Zirkels und stellvertretender Direktor der staatlichen Bankenaufsicht. Eli hatte keine Ahnung, in welcher Weise er ihnen würde helfen können, aber das überließ er Strauss.
»Er sollte sich beeilen. Wenn wir die Zeremonie am Freitag nicht bis Mitternacht ausführen, müssen wir bis zum nächsten Monat warten.«
Eli konnte die Vorstellung nicht ertragen, einen ganzen Monat in seinem augenblicklichen Zustand ausharren zu müssen. Dabei dachte er nicht nur an die Angst und die Unsicherheit, sondern auch an die Verwundbarkeit, die noch viel schlimmer war. Sein namenloser Feind hätte unendlich viel Zeit, etwas gegen ihn zu unternehmen.
»Ich gebe mir alle Mühe, okay? Es ist schon kurz vor Toresschluss, aber wir kriegen sie. Also wetzen Sie für Freitagabend schon mal Ihre Messer.«
In der Zwischenwelt
Das Wesen, das Tara Portman war, treibt in der Dunkelheit und befindet sich in einem Zustand tiefer Enttäuschung. Diejenige, für die sie hierher geschickt wurde, ist weggeblieben. Sie hat etwas, das Tara sich wünscht, das Tara dringend braucht.
Sie muss irgendeinen Weg finden, sie hierher zu holen. Sie glaubt, einen Weg zu kennen. Tara hat den Kontakt zu ihr hergestellt, während sie hier war, vielleicht kann sie auch noch auf andere Art und Weise – außerhalb dieser Mauern – einen Kontakt herstellen. Vielleicht kann sie sie erreichen und dazu bringen zurückzukommen.
Und was dann? Was geschieht mit Tara, wenn ihr Zweck erfüllt wurde? Wird sie ins Nichts zurückgeschickt? Alles, sogar dieses Halbdasein, wäre besser als das.
Hier bleiben. Ja …, aber nicht allein. Sie möchte nicht allein hierbleiben …
Donnerstag
1
Zeit für eine Pause.
Jack sah auf die Uhr über der Küchenspüle der Kentons: 10.15. War das alles? Ihm schien, als hätten sie viel länger als nur zwei Stunden gearbeitet. Er
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