HMJ06 - Das Ritual
trank seine Gatorade und begutachtete, welche Fortschritte sie gemacht hatten.
Als er eingetroffen war, hatten Lyle und Charlie bereits damit begonnen, den Zement an den Rändern des Spalts wegzuschlagen. Falls nach dem Erdbeben unter dem Zement ein tiefer Riss im Erdreich existiert hatte, so war er jetzt verschwunden. Zu sehen war nicht mehr als eine flache Rinne. Jack hatte als Kompromiss zwischen seiner bevorzugten Musik und dem, was die Kentons am liebsten hörten, ein paar Blues-Alben mitgebracht. Er hörte auch keinen Protest, als er eine CD von Jimmy Reed auflegte. Also ergriff er eine Spitzhacke und machte mit, wobei er das Werkzeug im Takt auf und nieder schwingen ließ, als gehörte er zu einem der gewöhnlich mit Ketten aneinander gefesselten Sträflingstrupps –daher der Name »chain-gang« –, wie sie früher vor allem in ländlichen Gegenden im Straßenbau eingesetzt wurden.
Er begann ein wenig schwerfällig und unter Schmerzen. Am Vortag hatte er Muskeln angestrengt, die er unter normalen Umständen eher selten benutzte, und sie waren noch verkrampft und wehrten sich gegen eine erneute Belastung. Aber nach zehn Minuten Arbeit mit der Spitzhacke lockerten sie sich allmählich.
Zwei Stunden später war der Spalt auf gut einen Meter verbreitert worden. Es war eine mühsame, harte Arbeit. Und es war heiß. Anfangs war es im Keller ausgesprochen kühl gewesen, doch die Wärme, die von den drei Körpern durch die Anstrengungen entwickelt und abgestrahlt wurde, hatte die Temperatur schnell ansteigen lassen. Mittlerweile herrschte im Keller ein Klima wie in einer Sauna. Jack konnte sich ausrechnen, dass er, ehe der Tag zu Ende war, eine Menge Gatorade brauchen würde, und anschließend mindestens ebenso viel Bier.
Er und Lyle setzten sich in ihren schweißnassen T-Shirts an den Küchentisch, um etwas zu trinken. Die leichte Brise, die durch die Fenster und die offene Hintertür wehte, zeitigte kaum eine abkühlende Wirkung. Charlie hatte sich eine Serviette und ein Doughnut geschnappt und sich mitsamt der Morgenzeitung in den Schatten des Gartens verzogen. Er hatte im Laufe des Vormittags fast nichts gesagt.
»Stimmt mit Charlie irgendwas nicht?«
Lyles Gesichtsausdruck verriet nichts. »Warum fragen Sie?«
»Er ist ziemlich still.«
»Er hat manchmal solche Phasen. Sie brauchen sich keine Sorgen deshalb zu machen.«
Richtig. Es ging Jack eigentlich nichts an, weshalb die Kenton-Brüder nicht so richtig miteinander zurechtkamen. Aber er mochte die beiden, und es störte ihn ein wenig.
Er wechselte das Thema. Mit der Vorderseite seines T-Shirts trocknete er sich das Gesicht ab. »Schon mal was von einer Klimaanlage gehört?«
»Die hätte nicht viel Sinn, wenn die Fenster und die Türen nicht ständig geschlossen bleiben.«
»Immer noch?«
Lyle nickte. »Immer noch. Wenn ich sie schließe, dann öffnen sie sich zwar nicht mehr so schnell wie vorher, aber am Ende passiert es doch.«
»Meinen Sie, das ist Tara?«
Ein neuerliches Kopfnicken. »Ich habe das Gefühl, dass sie hier gefangen ist. Sie möchte raus – vielleicht versucht sie es auch. Aber sie schafft es nicht.«
In diesem Augenblick stürmte Charlie durch die Tür herein und schwenkte wild die Morgenzeitung hin und her. »Hey, Jack! Sehen Sie sich das mal an!« Er hatte die Post aufgeschlagen und auf die Hälfte gefaltet, wie man es bei den Fahrgästen in der U-Bahn und den Pendlerzügen beobachten kann. Er warf sie auf den Tisch und deutete auf eine Artikelüberschrift. »Waren Sie das, großer Meister? Haben Sie das arrangiert?«
Jack zog die Zeitung zu sich herüber. Lyle kam um den Tisch herum und schaute über seine Schulter.
SIE HÄTTE GEWARNT SEIN MÜSSEN
Elizabeth Foster, besser bekannt als Medium und spiritistische Beraterin Madame Pomerol, hatte in dieser Woche bereits ihre zweite Begegnung von der unerfreulichen Art mit dem NYPD. Erst letzten Sonntag wurden sie und ihr Mann dabei angetroffen, wie sie unbekleidet durch das Bankenviertel irrten. Doch diesmal geht es nicht um die Erregung öffentlichen Ärgernisses, sondern um einen ungleich schwerwiegenderen Vorwurf: Die Bundesregierung selbst ist betroffen. Foster und ihr Ehemann Carl fielen gestern Nachmittag auf, als sie ihre Einkäufe in der La Belle Boutique auf der Madison Avenue mit falschen Hundertdollarnoten bezahlen wollten. Das Finanzministerium hat umfangreiche Ermittlungen aufgenommen.
Aber es kommt noch schlimmer. Eine Durchsuchung ihrer Wohnung auf
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