HMJ06 - Das Ritual
kennen, und Dimitri berichtete von seinen weltweiten Reisen zu dem, was er »Orte der Macht« nannte. Er hatte die üblichen Plätze aufgesucht – die Maya-Tempel von Chichen Itza in Yucatan, Macchu Picchu in den Anden, die vom Urwald teilweise verschlungenen Tempel von Angkor Wat in Kambodscha –, hatte diese jedoch tot und erkaltet vorgefunden. Was an Kraft in ihnen gebunden gewesen war, hatte sich durch die Einwirkung von Zeit und Scharen von Touristen verflüchtigt. Dabei hatte er von anderen, geheimen Orten erfahren und hatte auch diese besucht, allerdings ohne irgendwelchen Erfolg.
Doch dann hörte er Gerüchte, die seine Fantasie beflügelten, Geschichten von einer Felsenbastion auf einem obskuren Gebirgspass in Rumänien. Von einer uralten Festung, in der einst das unsagbar Böse gehaust haben sollte. Niemand konnte ihm die genaue Lage des Passes nennen, doch indem er entsprechende Aufzeichnungen sammelte und miteinander verglich, hatte Dimitri seine Suche auf eine Region konzentrieren können, auf die sämtliche Berichte hinzuweisen schienen. Er war den alten Wegen durch tiefe Schluchten gefolgt – in der Erwartung, dass diese Suche genauso enden würde wie so viele seiner Unternehmungen in den vorangegangen Jahren, nämlich mit einem Misserfolg und großer Enttäuschung.
Aber dieses Mal war es anders. Er fand die Festung in einem Tal, nicht weit von den Überresten eines kleinen Dorfes entfernt. Sobald er durch eine Mauerlücke das teilweise verfallene Bauwerk betrat und sich innerhalb seiner Mauern befand, wusste er, dass seine Suche zu Ende war.
Sofort ließ er eine größere Ladung lockerer Steine in die Vereinigten Staaten transportieren und stattete seinen Keller damit aus. Er sagte, die Steine hätten die Kraft der alten Festung absorbiert, und nun stünde ihm ein Teil dieser Kraft zur Verfügung. Sein eigenes Heim sei nun ebenfalls ein Ort der Kraft.
Schließlich erfuhr Eli auch den Grund für Dimitris Interesse an diesen Dingen: Er hatte schreckliche Angst, ebenso wie sein Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben zu müssen. Er hatte miterlebt, wie der Mann von innen her regelrecht verfault war, und hatte sich geschworen, dass ihm so etwas niemals zustoßen würde.
Eli kannte einen besseren Weg, ihn zu schützen, viel besser und weitaus zuverlässiger, als Steine aus Festungen der Alten Welt nach Amerika schaffen zu lassen. Behutsam und möglichst unauffällig brachte er in Erfahrung, wie weit Dimitri bei seinen Bemühungen, sich vor dem Schicksal seines Vaters zu schützen, gehen würde. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es nichts gab, was Dimitri nicht täte, machte er ihn mit dem Zirkel bekannt. Dimitri wurde Elis zwölfter Jünger.
Er stieg bald in die Position von Elis rechter Hand auf, denn Eli spürte, dass seine Motive ganz und gar rein waren. Eli hatte den Verdacht, dass für zu viele Mitglieder des Zirkels das Entführen von Kindern und das, was mit ihnen geschah, fast genauso wichtig war wie die Zeremonie selbst und das, was sie am Ende dadurch gewinnen würden. Sie mochten zwar hohe und einflussreiche Positionen bekleiden, doch er spürte, dass sie von niederen Motiven getrieben wurden. Jahr für Jahr hatte er in ihren Augen das lüsterne Funkeln beobachten müssen, wenn die betäubten Lämmer nackt auf den Zeremonientisch gelegt wurden. Das hatte Eli derart gestört, dass er dazu übergegangen war, die Lämmer vollständig bekleidet zu belassen und nur so viel Haut zu entblößen, wie nötig war, um ihnen die Brust zu öffnen und das immer noch schlagende Herz zu entnehmen. Kein Mitglied des Zirkels wandte während dieser blutigen Prozedur den Blick ab. Einige gingen sogar so weit vorzuschlagen, das Lamm nur zu fesseln und die Zeremonie bei vollem Bewusstsein erleben zu lassen.
Wie konnten sie nur? Die Zeremonie musste durchgeführt werden, ohne dem Lamm Schmerzen zuzufügen. Dies würde das Ritual entweihen. Der entscheidende Punkt war nicht der Schmerz, sondern das Erringen ewigen Lebens. Der alljährliche Tod eines Kindes war der unglückliche, aber notwendige Preis, der dafür gezahlt werden musste.
Wie beklagenswert, dass er sich mit solchen Kreaturen verbünden musste, doch in diesen Zeiten, in denen der Slogan »Big Brother is watching you!« immer mehr an Bedeutung gewann, brauchte er ihre Macht und ihren Einfluss, um die Zeremonie zu schützen und ihre alljährliche Durchführung zu gewährleisten.
Aber Dimitri war anders. Seine Aufmerksamkeit galt nur
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