HMJ06 - Das Ritual
Listenführern wusste, dass es ihn gab. Doch er lebte eindeutig außerhalb des Gesetzes. Sie wagte kaum, sich vorzustellen, wie viele Gesetze er gebrochen hatte oder weiterhin jeden Tag brach.
Aber seltsamerweise war er der moralischste Mensch – abgesehen von ihrem Vater –, den sie je kennen gelernt hatte. Er war wie eine Naturgewalt. Sie wusste, dass er sie niemals hintergehen würde, sie niemals im Stich ließe, es nie zulassen könnte, dass ihr irgendetwas zustieß. Sie wusste, dass er, wenn es wirklich so weit kommen sollte, sein Leben für sie opfern würde. Sie fühlte sich so sicher bei Jack, als wäre sie von einem undurchdringlichen Schutzschild umgeben.
Niemand anderer konnte ihr dieses Gefühl vermitteln. Im letzten Jahr um diese Zeit waren sie getrennt gewesen, Jack hatte ihr bei ihrer ersten Begegnung erklärt, er sei ein »Sicherheitsberater«. Als Gia erfahren hatte, womit er tatsächlich seinen Lebensunterhalt verdiente, hatte sie sich von ihm getrennt. Sie hatte sich in dieser Zeit mit anderen Männern getroffen, aber alle erschienen nach Jack unbedeutend. Wie Schemen.
Und dann, trotz all des Leids und der Beschimpfungen, mit denen sie ihn überschüttet hatte – als sie und Vicky ihn am dringendsten gebraucht hatten, war er zur Stelle gewesen.
»Ich meine«, sagte sie in einem neuen Anlauf, »nach all den Gaunereien, die du im Laufe der Jahre durchgezogen hast …«
»Einen Gauner zu begaunern ist was anderes. Die Fische, die diese Medien an den Haken kriegen, wissen es nicht besser. Ich finde, die Leute sollten für ihr Geld auch was Echtes kriegen, nicht nur irgendwelchen auf geheimnisvoll getrimmten Hokuspokus.«
»Vielleicht ist dieser Hokuspokus genau das, was sie suchen. Jeder muss an irgendetwas glauben. Und trotz allem ist es immer noch ihr Geld.«
Jack musterte sie verblüfft. »Hör ich recht? Spricht da meine gute alte Gia?«
»Mal im Ernst, Jack, wo liegt dabei der Schaden? Das ist wahrscheinlich immer noch besser, als das Geld in Foxworth oder Atlantic City am Spieltisch loszuwerden. Wenigstens finden sie am Ende ein wenig Trost.«
»Du kannst in einem Kasino eine ganze Ranch verlieren, und glaub mir, das kannst du auch bei einem Spiritisten. Das Miststück, für das ich gearbeitet habe …« Er schüttelte den Kopf. »Miststück ist kein Begriff, den ich leichtfertig benutze. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was für eine miese, rachsüchtige, armselige Person sie war, und als ich dahinter gekommen war …«
»Hat sie dich betrogen?«
»Nicht mich. Ich hatte sie und ihr mieses Spiel bereits durchschaut, aber dem Ganzen wurde die Krone aufgesetzt, als sie eine harmlose alte Dame dazu brachte, einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens auf sie zu überschreiben. Sie redete ihr ein, es wäre der Wunsch ihres verstorbenen Ehemanns.«
»O nein.« Gia sah das Bild deutlich vor sich.
»In diesem Augenblick ging ich von ihr weg.«
»Aber sie sind nicht alle so.«
»Die offenen sind es.«
»Die offenen?«
»Es gibt zwei Arten von Medien. Die stillen Medien glauben an die Geisterwelt und an das, was sie tun. Sie nehmen das Ganze ernst. Gewöhnlich beschränken sie sich auf Deutungen – Tarotkarten, Handlinien, Teeblätter und so weiter. Sie inszenieren keine Show. Die offenen Medien hingegen veranstalten ausschließlich eine Show. Sie sind Betrüger, die wissen, dass alles ein Schwindel ist, die Hintergrundinformationen über ihre Opfer austauschen und stets nach noch einfacheren und besseren Möglichkeiten suchen, sie auszunehmen. Sie verkaufen Lügen und wissen es. Sie versprechen einen Blick ins Jenseits, aber sie benutzen dazu Spezialeffekte wie Ektoplasma und Stimmen und Geistschreiben, um den Leuten vorzugaukeln, sie hätten ihnen geliefert, was sie haben wollen.«
»Aber, Jack, ich wette, dass eine ganze Reihe Leute auch ein wenig Trost von ihnen erhalten. Betrachte dich doch. Wenn du nicht so gut Bescheid wüsstest – und nehmen wir an, du hättest alles wenigstens teilweise geglaubt –, hätte diese Botschaft von Kate dich dann nicht ein wenig getröstet?«
»Sicher. Aber das ist doch mein Punkt. Die Botschaft kam nicht von Kate. Wenn ich als Kunde zu ihm gekommen wäre, hätte ich für mein Geld nichts als eine Lüge gekriegt.«
»Und deinen Seelenfrieden, der, in gewisser Hinsicht, unbezahlbar ist.«
»Auch wenn er auf einer Lüge basiert?«
Gia nickte. »Wenn du ein Placebo gegen Kopfschmerzen nimmst, wirst du sie doch tatsächlich los, oder etwa
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