HMJ06 - Das Ritual
was würdest du dann tun? Würdest du … die Schwangerschaft abbrechen?«
Sie rückte ein Stück von ihm weg, um ihn mit vom Weinen geröteten Augen anzustarren. »Eine Abtreibung? Niemals! Das ist mein Baby!«
»Meins auch.« Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand ihr Baby töten würde. Er drückte sie an sich. »Ich werde Vater. Ein richtiger Daddy. Ich. Ich kann das nicht glauben. Bist du ganz sicher?«
Sie nickte. »So sicher, wie das Beth-Israel mit seinem Befund sicher ist.«
»Donnerwetter.« Das Wort rutschte ihm geradezu über die Lippen. Er lachte. »Hey, drücke ich mich deutlich genug aus? Aber wirklich … Donnerwetter! Ein kleines Wesen, ein Teil von mir, das herumläuft und plappert und wächst und gedeiht.«
Ein Teil von ihm, der bis in die Ewigkeit fortdauern würde. Es war ein Wunder, und es verschlug ihm fast den Atem.
Ein Hupen erklang und holte ihn auf die Erde zurück. Er schaute sich um.
Ein Mann in einem kleinen Kia deutete auf Jacks Parklücke und rief: »Bleiben Sie stehen, oder fahren Sie weg?«
Jack winkte ihm zu, startete den Motor des Crown Vic und lenkte ihn aus der Lücke hinaus.
»Was meinst du, wie der kleine Jack aussehen wird?«, fragte er.
»Der kleine Jack? Wie kommst du darauf, dass es ein Junge ist?«
»Wenn es ein Mädchen ist, dann heißt das, dass du dich mit jemand anderem eingelassen hast.«
»Ach, wirklich? Wie soll das denn gehen, erzähl mal.«
Jack warf sich in die Brust. »Nun, ich bin derart männlich, dass ich nur Y-Chromosomen produziere.«
Sie lächelte. »Ist das dein Ernst?«
»Klar. Ich hab’s dir bisher nicht erzählt, weil ich immer dachte, es sei nicht so wichtig. Aber jetzt finde ich, dass du die Wahrheit erfahren solltest.«
»Dann habe ich tolle Neuigkeiten für dich, mein Freund. Es ist ein Mädchen. Meine Eizellen killen nämlich jedes Y-Chromosom.«
Jack lachte. »Autsch.«
Während Gia sich an ihn schmiegte, fuhren sie durch die Stadt und überlegten laut, wann es passiert sein könnte und welches Geschlecht das Kind haben würde. Sie jonglierten mit Mädchen- und Jungennamen herum, und Jack steuerte sie durch eine völlig neue Welt, viel heller und voller Hoffnung und Verheißung und vielversprechender Aussichten, als er es sich jemals hätte träumen lassen.
5
Lyle stand in der Küche und warf die Alufolie, in die die übrig gebliebenen Pizzastücke eingewickelt gewesen waren, die er und Charlie sich zum Abendessen aufgewärmt hatten, in den Abfalleimer, als er die Stimme hörte.
Er erstarrte und lauschte. Es war eindeutig nicht Charlies Stimme. Nein … es war die Stimme eines Kindes. Eines kleinen Mädchens. Und es klang, als singe sie.
Ein kleines Mädchen … Gia hatte am Nachmittag ein kleines Mädchen gesehen. War es zurückgekommen?
Lyle ging in Richtung Flur, von wo die Stimme herüberzudringen schien. Es konnte kein Zweifel bestehen. Ein kleines Mädchen sang. Die Melodie war geradezu qualvoll vertraut.
Während er sich dem Flur näherte, wurde die Stimme klarer. Sie erklang hinter der geschlossenen Tür am Ende des Flurs, im Wartezimmer.
Und die Worte …
»I think we’re alone now …«
War das nicht ein Song aus den sechziger Jahren? Von irgendeinem Tommy Soundso?
Er ging langsamer. Irgendetwas an der Stimme war seltsam. Es war ihr Timbre, die Art und Weise, wie sie widerhallte. Sie klang weit entfernt, als käme sie aus einem Brunnen. Einem sehr tiefen Brunnen.
An der Tür zögerte Lyle, dann legte er die Hand um den Knauf und riss sie auf. Die Stimme erklang jetzt sehr laut, als ob das Kind schrie. Die Worte brachen sich an den Wänden, hallten von jeder Fläche wider, drangen aus allen Richtungen an seine Ohren. Aber wo war das Kind?
Lyle stand in einem leeren Raum.
Er ging hinüber zur Couch und schaute dahinter, fand dort jedoch außer ein paar Staubflocken nichts.
Und jetzt entfernte sich der Gesang … schwebte durch den Flur, durch den er soeben hergekommen war. Lyle kehrte zur Tür zurück, sah draußen aber niemanden. Doch der Gesang wanderte von ihm weg. Und er folgte ihm.
»Charlie!«, rief er, als er an der Treppe vorbeikam. Er sagte sich, dass er einen Zeugen brauchte, doch tief in seinem Innern wusste er, dass er in Wirklichkeit mit dieser seltsamen Erscheinung nicht allein sein wollte. »Charlie, komm runter! Schnell!«
Aber Charlie reagierte nicht – da war keine Stimme, die »Was ist los?« fragte. Keine Schritte im Flur über ihm. Wahrscheinlich hatte er
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