HMJ06 - Das Ritual
Jacks Antwort nicht richtig mit, weil eine Bewegung im Flur hinter Lyle ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie reckte den Kopf, um besser sehen zu können.
Ein Mädchen mit sehr blasser Haut und langem blondem Haar ging durch den Flur zur Küche. Sie trug Reitkleidung – eine Reithose und Stiefel. Befand sich etwa in der Nähe ein Reitstall? Sie schien in Vickys Alter zu sein – sicher nicht viel älter als acht oder neun. Gia fragte sich, wo sie so plötzlich herkam und was sie in diesem Haus zu suchen hatte.
Während das Mädchen um die Ecke bog, warf es einen Blick über die Schulter, und seine blauen Augen richteten sich auf Gia. Gia erkannte in ihnen eine tiefe Not, ein Flehen, das ihr fast das Herz zerriss.
Lyle musterte sie verwundert. Er musste etwas in ihrem Gesicht bemerkt haben. »Stimmt was nicht?«
»Wer ist das kleine Mädchen?«
Lyle wirbelte herum, als hätte er hinter sich einen Schuss gehört. »Kleines Mädchen? Wo?«
»Dort hinten, im Flur.« Er versperrte ihr jetzt die Sicht. Gia lehnte sich nach links, um an ihm vorbeizuschauen, und stellte fest, dass der Flur leer war. »Gerade eben war sie noch da.«
»Es gibt kein Mädchen in diesem Haus, weder ein großes noch ein kleines.«
»Ich habe sie gesehen. Eine kleine Blondine.« Gia deutete in den Flur. »Sie war dort hinten und ging zur Küche.«
Lyle machte kehrt und eilte durch den Flur.
»Charlie!«, rief er. »Kannst du mal für einen Moment herkommen?«
Gia folgte Lyle und bemerkte zu ihrer Linken die Treppe, die nach oben zum ersten Stock führte. Diese Aufteilung kam ihr ein wenig seltsam vor, bis ihr klar wurde, dass das Haus umgebaut worden war, um den Channeling-Raum einzurichten. Sie hörte Jack hinter sich.
Lyle bog ab in die Küche und warf einen schnellen Blick in den angrenzenden Raum. Offensichtlich beruhigt, dass sich dort niemand aufhielt, ging er weiter zur offenen Hintertür. Er stieß die Fliegentür auf und blieb auf dem schmalen Absatz stehen, um den Garten abzusuchen. Die Mittagssonne brachte seine Dreadlocks zum Glänzen. Nach ein paar Sekunden kam er wieder herein und sah Gia an, während die Fliegentür hinter ihm ins Schloss fiel.
»Sind Sie sicher, dass Sie ein kleines Mädchen gesehen haben?«
»Sehr sicher sogar.«
Er deutete auf die Hintertür. »Dann muss sie in den Garten hinausgelaufen sein.«
»Das bezweifle ich«, sagte Jack.
Gia wandte sich um und sah ihn neben einer Tür stehen, hinter der eine Treppe nach unten führte.
»Warum?«, wollte Lyle wissen.
»Weil wir nicht gehört haben, wie die Fliegentür zufiel. Falls sie sich nicht die Zeit genommen hat, sie behutsam ins Schloss zu drücken, ist die Kleine noch hier.« Er deutete mit einem Daumen auf die Kellertreppe. »Und ich wette, ich weiß, wo.«
Lyles Bruder kam aus dem ersten Stock herunter. Er trug ein Sporttrikot und eine Trainingshose mit Beinen, die er bis dicht unter die Knie hochgeschoben hatte. Seine schwarzweißen Basketballschuhe, deren Laschen auf den nicht verknoteten Schnürsenkeln lagen, sahen aus wie durstig hechelnde Hunde.
Lyle stellte Gia schnell als »Jacks Freundin« vor, und sie war auf Anhieb von der Wärme in Charlies Lächeln angetan, als er Jack mit einem High Five begrüßte. Das Lächeln verflog jedoch sofort, als Lyle ihm von dem kleinen Mädchen erzählte, das Gia gesehen hatte.
Jack und Gia warteten in der Küche, während Lyle und Charlie den Keller ihres Hauses durchsuchten. Jack ging zur Hintertür und blickte durch das Fliegengitter hinaus in den kleinen Garten.
Ohne Gia anzusehen, sagte er: »Hast du dich als kleines Kind jemals in ein fremdes Haus geschlichen?«
»Bist du verrückt?«
»Hast du jemals daran gedacht, so etwas zu tun?«
»Niemals. Ich wäre vor Angst gestorben.«
»Du meinst, in etwa so wie Lyle und Charlie im Augenblick?« Er machte einen Schritt auf sie zu und senkte die Stimme. »Ich will nicht behaupten, dass sie Todesangst haben, aber irgendetwas beunruhigt sie zutiefst. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde kleine Mädchen nicht besonders furchteinflößend. Also was geht hier wirklich …«
Gia hörte Schritte auf der Kellertreppe und sah die Kentons aus dem Keller heraufkommen.
»Leer«, meldete Lyle. »Sie muss tatsächlich durch die Hintertür hinausgeschlüpft sein.«
»Ohne ein Geräusch?«, wunderte sich Jack.
Lyle zuckte die Achseln. »Ich wüsste nicht, wohin sie sonst verschwunden sein sollte.« Er warf Charlie einen unbehaglichen Blick zu. »Oder
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