HMJ06 - Das Ritual
hast du eine Ahnung?« Dann wandte er sich an Gia. »Sind Sie …?«
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte sie in einem viel schärferen Tonfall, als sie beabsichtigt hatte. »Gewöhnlich neige ich nicht zu Halluzinationen.«
Gia beschrieb das kleine Mädchen geradezu fotografisch genau und ließ lediglich den flehenden Ausdruck in den Augen des Kindes weg.
»Ein Kind mit blonden Haaren«, sagte Charlie und massierte sich das Kinn. »Hier gibt es nicht gerade viele blonde Kinder, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.«
»Vielleicht sollten Sie darauf achten, dass Ihre Haustür verriegelt ist, wenn Sie sich im ersten Stock aufhalten«, sagte Gia.
Lyles Gesichtsausdruck war düster. »Ich wünschte, das wäre so einfach, wie es sich aus Ihrem Mund anhört.«
»Ich unterbreche diese interessante Konversation nur ungern«, brachte Jack sich wieder zu Gehör und deutete auf seine Armbanduhr, »aber ich muss noch einige Requisiten für meinen Termin bei Madame Pomerol besorgen.«
Als sie sich verabschiedeten, war die Stimmung seltsam bedrückt. Gia hatte das untrügliche Gefühl, dass die Kenton-Brüder einerseits froh waren, dass sie gingen, andererseits aber nicht allein in diesem Haus zurückbleiben wollten.
»Irgendwas Seltsames ist mit diesen beiden los«, sagte Jack, während sie zu seinem Wagen schlenderten. »Sie sind so nervös wie ein Paar überdrehter Tanzmäuse.«
»Ich wüsste gern, warum«, sagte Gia. »Und ich weiß genau, dass ich das kleine Mädchen gesehen habe. Ich kann zwar nicht erklären, wie die Kleine reingekommen oder hinausgelangt ist, aber ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Ich glaube dir. Und das Seltsame ist, dass die Kenton-Brüder dir ebenfalls glauben, obwohl es scheint, als wäre das Gegenteil der Fall.«
Gia sah sich suchend nach der Inderin um. Sie wollte ihr sagen: Sehen Sie? Wir waren im Haus, und jetzt sind wir wieder draußen, und es ist nichts passiert. Aber die Frau war nirgendwo zu sehen.
Jack hielt Gia die Wagentür auf, und sie machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Als er hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte, drehte er sich zu ihr um.
»Apropos glauben – glaubst du jetzt, dass seine Prophezeiung, du würdest zwei Kinder haben, nicht mehr als eine wilde Vermutung war?«
»Das glaube ich«, sagte sie und dachte, jetzt ist der richtige Moment gekommen. »Aber du musst verstehen, weshalb mir ausgerechnet dieser Punkt so wichtig war.«
Jack startete den Motor. »Verrat’s mir.«
Gia zögerte, dann platzte sie heraus: »Ich bin schwanger.«
4
Jack brach in Gelächter aus – für einen kurzen Moment glaubte er, gehört zu haben, dass Gia gesagt hatte, sie sei schwanger – und dann bemerkte er den Ausdruck ihrer Augen.
»Hast du … schwanger gesagt?«
Sie nickte, und er sah in ihren Augen Tränen glitzern. Freude? Bestürzung? Beides?
In irgendeinem entfernten Winkel seines Gehirns begriff Jack, dass dies ein überaus heikler Moment war, und er bemühte sich verzweifelt, die richtigen Worte zu finden. Doch sein Gehirn hatte sich in Mus verwandelt, während er darum rang, die Bedeutung dieser Worte in ihrer vollen Tragweite zu erfassen …
Ich bin schwanger.
»M-mei …« Er brach ab. Beinahe hätte er Meins? gesagt. Ein Reflex. Natürlich war es seins. »Wir kriegen ein Baby?«
Gia nickte wieder, und jetzt bebte ihre Unterlippe, während die ersten Tränen an ihren Wangen herabrannen.
Jack rutschte über den Sitz und nahm sie in die Arme. Sie schluchzte, während sie sich gegen ihn presste und das Gesicht an seinem Hals vergrub.
»O Jack, ich wollte nicht, dass das passiert. Sei nicht böse. Es war ein Unfall.«
»Böse? Du liebe Güte, Gia, warum sollte ich böse sein? Geschockt, ja, auch verblüfft, aber böse war das Letzte. Das käme mir niemals in den Sinn.«
»Gott sei Dank! Ich …«
»Wie lange weißt du es schon?«
»Seit heute Morgen.«
»Und wir sind den weiten Weg hierher gefahren, und du hast nicht ein Wort gesagt? Warum?«
»Ich hatte es vor, aber …«
»Aber was?«
»Ich hatte keine Ahnung, wie du reagieren würdest.«
Das war ein neuer Schock. »Was dachtest du denn, dass ich tue? Dich sitzen lassen? Warum um alles in der Welt …?«
»Wegen all der Veränderungen, die sich für dich ergeben, wenn du bei mir bleibst.«
»Hey.« Er umarmte sie fester. »Ich gehe nirgendwohin. Und ich komme mit allen Veränderungen zurecht. Aber gehen wir einfach mal davon aus, dass ich mich aus dem Staub machen würde,
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