HMJ06 - Das Ritual
eine kurze Turnhose. Außerdem war er barfuß.
»Hallo, Jack«, sagte er, doch sein Lächeln schien freudlos und verwirrt. »Genau rechtzeitig. Kommen Sie herein.«
»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an Gia erinnern«, sagte Jack. »Sie war am Freitagabend mit Junie und den anderen hier.«
»Ja, natürlich.« Er hatte für Gia ein flüchtiges Lächeln und eine kurz angedeutete Verbeugung übrig. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Er schien unter Hochspannung zu stehen.
Jack hatte es ebenfalls bemerkt. Während er Gia vor sich durch die Tür ins Haus schob, fragte er: »Etwas nicht in Ordnung?«
Lyle schüttelte den Kopf. »Vergangene Nacht sind mit und in diesem Haus einige seltsame Dinge passiert.«
»Meinen Sie, es waren die Fosters?« Jack war ehrlich überrascht. »Sie sollten doch …«
Lyle schüttelte den Kopf. »Die waren es ganz bestimmt nicht.«
»Das ist gut. Kann ich irgendetwas tun?«
Ein seltsamer Ausdruck trat in Lyle Kentons Augen. Nicht Angst und nicht Zorn. Eher so etwas wie verzweifelte Hilflosigkeit. »Das fällt nicht in Ihr Ressort. Ich hole Ihnen schnell Ihr Geld.«
Was immer im Gange war, er wollte offenbar nicht darüber sprechen. Aber vielleicht äußerte er sich zu Freitagabend.
»Einen Moment«, sagte Gia, während Lyle Anstalten machte, sich zu entfernen. »Ehe Sie gehen, darf ich Ihnen eine einzige Frage stellen?«
Er hielt inne und sah sie an. »Selbstverständlich.«
»Es betrifft den Freitagabend …, als Sie Fragen beantworteten, die wir auf diese Karten geschrieben hatten.«
»Sie meinen die Zettel-Lesung. Was ist damit?«
»Nun …« Ihr Blick wanderte zu Jack, der sie mit einem verwirrten Gesichtsausdruck beobachtete. Sie kam sich schrecklich dumm vor. Er hatte die Frage bereits für sie beantwortet, aber sie musste die Antwort noch einmal hören, und zwar direkt vom dem, den sie eigentlich betraf. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, was ich wissen wollte … Ich fragte …«
»›Wie viele Kinder werde ich haben?‹ Richtig? Und ich glaube, ich antwortete: zwei.« Er lächelte. »Wollten Sie eine andere Antwort hören?«
»Ich … ich möchte wissen, weshalb Sie diese Zahl nannten. Haben Sie sie nur geraten, oder war es, ich meine … wissen Sie irgendetwas, das sonst niemand weiß?«
»Gia«, ergriff Jack das Wort, »habe ich dir nicht …«
»Ich weiß, Jack, aber ich will es von ihm persönlich hören.«
Lyle sah Jack fragend an.
»Nur zu«, sagte Jack. »Spucken Sie es aus.« Er hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: »Aber die Wahrheit.«
Lyle zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Ich hab’s geraten. Mehr nicht.«
»Sind Sie ganz sicher? Gab es keine leise Stimme, keine übersinnliche Eingebung?«
»Nein. Ich hab mir die Zahl einfach ausgedacht. Sonst noch was?«
»Nein. Das ist alles. Vielen Dank, dass Sie so ehrlich waren.«
Lyle verbeugte sich abermals und öffnete eine Tür hinter sich. Während er sich durch einen Flur entfernte, sah Gia im hinteren Teil des Hauses so etwas wie eine Küche und offene Fenster.
»Ich hab’s dir ja gesagt«, meinte Jack, als sie allein waren. Er schien ein wenig verärgert, dass ihr seine Erklärungen offensichtlich nicht ausgereicht hatten.
»Es tut mir Leid, Jack.«
»Es gibt nichts, was dir Leid tun müsste.« Er betrachtete sie prüfend. »Wolltest du deshalb heute mitkommen? Um ihn das zu fragen?«
Sie nickte. »Ziemlich dämlich, hm?«
Vielleicht war es gar nicht so dämlich, wenn man ihren augenblicklichen Zustand bedachte. Aber sie fühlte sich dämlich.
Er lächelte sie an. »Nichts, was du tust, ist dämlich. Es ist nur so, dass ich nicht verstehe, warum dir plötzlich so unendlich wichtig ist, was ein völlig Fremder gesagt hat.«
»Ich erklär’s dir später … auf dem Heimweg.« Hoffentlich schaffe ich es dann.
Jack fixierte sie noch immer. »Ich begreife das alles nicht. Was …?«
In diesem Augenblick kam Lyle mit einem weißen Briefumschlag zurück. Er reichte ihn Jack.
»Bitte sehr. Die erste Hälfte. Was denken Sie, wann die zweite Hälfte des Honorars fällig wird?«
»Wenn alles wunschgemäß verläuft«, antwortete Jack, »in ein paar Tagen.«
»Ist Phase zwei noch immer für morgen Nachmittag geplant?«
Lyle versuchte augenscheinlich, in Rätseln zu sprechen. Wahrscheinlich ahnte er nicht, dass Jack ihr während der Fahrt nach Astoria von den Problemen der Kentons mit Madame Pomerol erzählt hatte. Gia entschied, ihn in dem Glauben zu lassen.
Sie bekam
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