HMJ06 - Das Ritual
und sich dieser Situation zu stellen. Denn was er an diesem Vormittag erklärt hatte, entsprach der Wahrheit. Er würde niemals aus seinem Haus fliehen.
Wieder atmete er tief durch. Also. Mal sehen, wo er stand: Angenommen, dass eine besondere Art Geisterwelt real war – und er fühlte sich dazu gedrängt, dies vorläufig als gegeben anzunehmen –, so musste sie trotz allem bestimmten Regeln unterliegen. Oder etwa nicht? Jede Aktion hatte eine Wirkung. Jeder Vorfall hatte eine Ursache.
Vielleicht auch nicht. Aber das war der einzige Weg, wie er dem Problem zu Leibe rücken konnte. Wenn andere Regeln galten, dann würde er sie in Erfahrung bringen müssen. Einstweilen würde er sich an das Prinzip von Ursache und Wirkung halten.
Daraus ergab sich die Frage, was all diese Erscheinungen ausgelöst hatte? Was hatte diesen Dämon oder Geist oder diese Wesenheit geweckt oder zu seinem Haus gelockt? War es etwas, das Charlie getan hatte? Oder steckte jemand anderer dahinter?
Das waren die vordringlichsten Fragen. Sobald er die Antworten darauf kannte, wäre der nächste Schritt herauszufinden, was er – wenn überhaupt irgendwas – in seiner augenblicklichen Lage tun könnte.
6
»Mehr Kashi?«, fragte Gia.
Jack hielt den Teller hoch und imitierte Oliver Twist fast perfekt: »Bitte, Ma’am, kann ich noch was kriegen?«
Gia hatte eine ihrer vegetarischen Abendmahlzeiten zubereitet. Sie befand sich zur Zeit auf einem Makrobiotik-Trip, daher hatte sie sich an diesem Abend für Kashi – eine ganz spezielle Art Getreideflocken – und Bohnen mit geschmortem Spinat und Jersey-Beefsteaks mit Mozzarella entschieden. Alles köstlich, alles nahrhaft, alles so gut für den Körper, wie Nahrung es nur sein kann. Und obgleich er gewöhnlich nach solchen Mahlzeiten mit vollem Bauch vom Tisch aufstand, hatte Jack stets das Gefühl, als hätte er einen Gang ausgelassen.
Jack schaute zu, wie Gia sich mehr Kashi aus dem Topf auf den Teller lud. Das alte Stadthaus verfügte über eine Küche mit Schränken und Parkettfußboden, alles nicht sehr zeitgemäß in Farbtönen, die vom Alter gedunkelt waren. Jack konnte sich noch daran erinnern, wie er die Räumlichkeiten im Vorjahr zum ersten Mal gesehen hatte. Vickys beide alten unverheirateten Tanten hatten hier mit ihrer Hausangestellten Nellie gewohnt. Damals hatte die Inneneinrichtung im Großen und Ganzen genauso ausgesehen, die Möblierung war immer noch dieselbe, doch jetzt machten die Räumlichkeiten einen lebendigen, bewohnten Eindruck. Die Ursache dafür ist meistens ein Kind.
Jack ließ den Blick an Gias schlankem Körper entlangwandern und fragte sich, wann man es ihr allmählich würde ansehen können, wann sie anfangen würde, rundlichere Formen anzunehmen. Dabei staunte er insgeheim über die Beschwernisse, denen Frauen ihre Körper aussetzten, um der Welt Kinder zu schenken.
Er schüttelte den Kopf. Wenn Männer so etwas durchmachen müssten, dann wäre die Welt so gut wie entvölkert.
Er konnte den Blick nicht von Gia lassen und bemerkte, dass ihre Haltung seltsam angespannt wirkte. Ihre Ungewissheit während des Wochenendes, ob sie schwanger war oder nicht, hätte die Stimmungsschwankungen erklärt, die ihm aufgefallen waren. Dann hätte er jedoch angenommen, dass die schließlich erlangte Gewissheit und die Tatsache, sich ihm offenbart zu haben, ihre innere Anspannung gelöst hätte. Es musste also noch etwas anderes geben, das sie bedrückte.
Jack stand auf und holte sich eine weitere Flasche Killian’s aus dem Kühlschrank.
»Es macht dir doch nichts aus, dass ich etwas Alkoholisches trinke, oder?«
Es war seine dritte Flasche Killian’s, während Gia immer noch an ihrem ersten Glas Sodawasser nippte. Die Flasche Wein, die er unterwegs gekauft hatte, stand ungeöffnet auf der Essbar. Gia hatte ihm erklärt, dass sie, sosehr sie ihren Chardonnay auch liebte, in den nächsten neun Monaten auf jeglichen Alkohol verzichten würde.
»Nicht, wenn es Bier ist. Mit Wein könnte man mich in Versuchung führen, aber wenn die Welt von heute auf morgen vergessen würde, wie Bier gebraut wird, würde ich es bestimmt nicht vermissen.«
»Eine Welt ohne Bier … was für ein schrecklicher Gedanke.«
Er fragte sich, wie schwer es ihm fallen würde, neun Monate lang auf Bier zu verzichten. Eine der schönsten Freuden des Lebens war, am Ende eines Tages die Hand um eine kalte Flasche legen zu können. Er könnte diesem Genuss zwar abschwören, aber es würde
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