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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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sich in seinem Zimmer verkrochen, sich ein Paar Kopfhörer aufgesetzt und hörte jetzt Gospelgesänge, während er in der Bibel las. Wie oft wollte er das Buch denn noch durchlesen?
    Lyle folgte der Stimme, die immer noch dasselbe Lied sang, in die Küche. Aber sobald er diesen Raum betrat, schien die Stimme aus dem Keller zu kommen.
    Lyle blieb an der obersten Stufe der Treppe stehen und starrte in den dunklen Schacht, der vor ihm gähnte. Er wollte nicht dort hinunter, nicht alleine. Noch nicht einmal mit jemand anderem als Begleitung, wenn er ganz ehrlich war. Nicht nach gestern Abend.
    Er fragte sich, ob diese kindliche, zarte Stimme zu der Erscheinung gehörte, die etwas auf seinen Badezimmerspiegel geschrieben hatte, ehe er in tausend Stücke zersprungen war. Oder spukten in diesem Haus mehrere Gespenster?
    »Charlie!«
    Auch diesmal keine Reaktion.
    Lyle und Charlie hatten fast den gesamten Vormittag damit verbracht, darüber zu diskutieren, ob es tatsächlich bei ihnen spukte. Im angenehm warmen Licht des Tages und nachdem der Schock und die Angst der vorangegangenen Nacht sich weitgehend verflüchtigt hatten, fiel es Lyle schwer, an eine solche Möglichkeit zu glauben. Doch ein Blick auf den zerschmetterten Spiegel im Badezimmer reichte schon aus, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
    Die entscheidende Frage war: Was konnten sie dagegen tun? Sie konnten wohl kaum die Ghostbusters um Hilfe bitten. Und selbst wenn es eine solche Truppe gäbe – die sich aus einer solchen Aktion ergebende Publicity wäre der nackte Horror: Hellseher hat Angst vor Gespenstern! Braucht fremde Hilfe! Der reinste PR-Albtraum.
    Die Stimme wurde jetzt leiser. Wohin konnte sie aus dem Keller verschwinden?
    Lyle holte tief Luft. Er musste dort hinuntergehen. Neugier, Wissensdurst trieben ihn, die Antwort zu suchen. Denn Bescheid zu wissen war besser, als unwissend zu bleiben. Zumindest hoffte er das.
    Er betätigte den Lichtschalter und eilte die Treppe hinunter – es hatte keinen Sinn, die Aktion hinauszuzögern –, und stand schließlich im vertrauten, aber leeren Keller mit seinem orangefarbenen Fußboden, der Plastikholztäfelung und den viel zu hellen Leuchtstoffröhren. Aber er konnte noch immer den Gesang hören. Ganz schwach. Er kam aus der Mitte des Kellerraums …, aus dem Spalt im Fußboden, der sich quer durch den ganzen Raum erstreckte.
    Nein … Das war unmöglich.
    Lyle näherte sich behutsam der Öffnung und ging an ihrem Rand in die Hocke. Es war eindeutig. Die Stimme erklang tief unten in der Erdbebenspalte unter seinem Haus.
    Er schüttelte unwillkürlich den Kopf und rieb sich die Augen. Warum? Das Haus war mehr als fünfzig Jahre alt. Warum hatte all das nicht dem Vorbesitzer passieren können?
    Moment mal, der Vorbesitzer war tot.
    Na schön, dann eben dem Besitzer davor. Aber warum passierte es ausgerechnet ihm? Und warum jetzt?
    Die Stimme verhallte immer mehr. Lyle beugte sich weiter vor. Sie sang noch immer den alten Text: »I think we’re alone now.« Warum diesen Song? Warum einen Schlager aus den sechziger Jahren?
    Und dann erlosch die Beleuchtung, und die zarte Stimme steigerte sich von einem fast tonlosen Flüstern zu einem Wutschrei, der die Grundmauern des Hauses erschütterte und Lyle auf den Rücken warf. Eine stinkende Wolke hüllte ihn in der Dunkelheit ein – es war der gleiche Friedhofsgestank wie in der Nacht, als der Spalt zum ersten Mal erschienen war –und ließ ihn über den Fußboden und die Treppe hinauf zu Licht und frischer Luft kriechen.
    Nass geschwitzt, nach Luft schnappend schlug er die Kellertür zu und zog sich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Essbar in der Küche stieß. Dies alles entglitt seiner Kontrolle und wuchs ihm über den Kopf. Er brauchte Hilfe, und zwar schnellstens, aber er hatte nicht die leiseste Idee, an wen er sich wenden sollte.
    Ganz sicher konnte er keinen Kollegen aus der Spiritistenszene fragen. Er hatte noch nie einen kennen gelernt, der kein verdammter Schwindler und Betrüger war.
    Jeder würde den Kopf schütteln. Genauso wie er selbst.
    Okay, es gab welche, die glaubten tatsächlich an den Blödsinn, den sie ihren Kunden auftischten, aber die machten sich was vor. Und er hatte festgestellt, dass Menschen, die sich selbst belogen, noch unzuverlässiger waren als die, die nur andere belogen. Ein Betrüger wäre ihm jederzeit lieber als ein Narr.
    Lyle starrte auf die Tür und beruhigte sich allmählich. Es wurde Zeit, sich zusammenzureißen

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