Hochgefickt
wirkende Begeisterung hinein und nahm zum Beleg seiner These einzelne Fotos zu Hilfe: »Hier, das genervte Augenrollen zum Beispiel, als Uwe wieder mal irgendeinen Stuss verzapft und damit allen Zeit stiehlt; oder das hier, die stumpfsinnige Warterei im Märchenprinzessinnen-Outfit – allein schon der Plastikbecher ist da grandios deplatziert, aber dein Blick dazu ist der Hammer! Und das tollste Bild, das ist für mich das hier auf dem Balkon in Prag, wo ich beim Abschminken dabei war! Wie du dir die falschen Wunden und dieses ganze Elend aus deinem Gesicht wäschst, um wie Phoenix aus der Asche strahlend zum Vorschein zu kommen – das ist schon als Kontrast zur linken Seite toll, aber am meisten mag ich daran, dass du da auf dem Bild nicht nur grinsend Zähne zeigst, sondern dass endlich auch mal deine Augen ehrlich lachen und leuchten …«
Ich unterbrach ihn in der Hoffnung, dass meine Menschenkenntnis und das daraus resultierende Kalkül noch funktionierten: »Jens, ich hör dich die ganze Zeit reden über Sachen wie Kraft, echte Gefühle, Ehrlichkeit – meinst du wirklich, das ist einfach oder angenehm, sich dem demonstrativ so offen zu stellen?!«
»Ist es denn wirklich angenehmer und einfacher, das alles zu verstecken?«, stieg er auf meine Provokation ein. Hervorragend lief das, er legte nämlich sogar noch nach: »Vor lauter alberner Farce darf man doch so viel Wahrheit und solch ein Potential nicht ungenutzt versanden lassen!«
»Du denkst also, da muss man offensiv mit umgehen und dazu stehen? Die ganze Wucht, mit der das alles über einen hereinbrechen kann, einfach aushalten?«, fragte ich noch mal nach, weil ich immer noch nicht genug Mut gesammelt hatte für mein Vorhaben.
»Ja«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Ich glaube, es ist auf Dauer gesundheitsschädlich, die Wahrheit zu unterdrücken.«
Ich dankte im Stillen dem lieben Gott für diese grandiose Steilvorlage. »Wenn das so ist, dann sollte ich dringend etwas für meine Gesundheit tun!«, bekam ich trotz Nervosität noch halbwegs souverän raus, gleichzeitig nahm ich Jens’ Gesicht in meine Hände, sah ihm kurz, aber tief in die Augen, bevor ich meine schloss und ihm dann endlich einen Kuss gab.
Einen Moment noch spürte ich ihn überrascht zögern, dann erwiderte er meinen Kuss, und zwar so, dass ich extrem froh darüber war zu sitzen, weil es mich sonst wirklich umgehauen hätte. Nicht nur, dass er ganz rational von der technischen Seite her schon mal wirklich unverschämt gut küssen konnte mit seinen vollen Lippen – nein, mein Kreislauf musste darüber hinaus auch noch mit der hereinbrechenden Wucht dieses emotionalen Overkills klarkommen, und in Kombination bescherte mir all das mehr innerliches Erdbeben, als ich es überhaupt für möglich gehalten hätte.
Zwei letzte klare Gedanken ließen mich grinsen, bevor ich mich im Rausch des Moments völlig aufzulösen begann: Zum einen amüsierte es mich, dass ich dank meiner katholischen Schulbildung daran denken musste, dass es die Trompeten von Jericho gewesen waren, die die Mauern zum Einsturz gebracht hatten; zum anderen stellte ich fest, dass ich anscheinend gerade meine neue Lieblingsdroge gefunden hatte, die viel mehr und besser kickte als alles, was ich bisher sonst so ausprobiert hatte: Statt Koks im Kopf hatte ich Schmetterlinge im Bauch.
14
Einer kommt, einer geht
(Sommer 1997)
»Das ist ja ’ne echte Unverschämtheit, meine Liebe, andauernd jammerst du am Telefon rum, wie fertig du bist, und dann kommst du hier an und siehst aus wie das blühende Leben?! Und das alles auch noch ungeschminkt, tsstss … Frechheit!«, begrüßte mich Ralf, als er mir die Tür zu Rezas Wohnung öffnete. Er umarmte mich warmherzig und hieß mich herzlich willkommen zu unserem Familientreffen: Meine Eltern waren nämlich auch schon eingetroffen, genau wie Sabine, dieses Mal ohne Mann und Kinder. Ich freute mich wirklich unglaublich, drei ganz private Tage ohne Verpflichtungen und Versteckspiel vor mir zu haben.
Zugegeben, dass der Mittag vor meiner Abfahrt so verlaufen war wie beschrieben, tat sicher auch sein Übriges zu meinem allgemeinen Wohlbefinden, aber umso wunderbarer war es, diesen flirrenden Zustand im Kreis meiner Vertrauten nicht verbergen zu müssen bei dem fabelhaften Abendessen, das Ralf und Reza gekocht hatten.
Renate hatte ein Blick auf mich genügt, dann funkelten ihre Augen freudig, und noch ehe auch ich ein Glas Champagner in der Hand hielt, um auf unser
Weitere Kostenlose Bücher