Hochsaison. Alpenkrimi
gerade zustechen, aber in irgendeiner Weise gefährlich sahen diese Spitzen schon aus. Das Mädchen mit dem Schakalsgesicht, das neben ihr saß, warf einen flüchtigen Blick hin zu ihren Schuhen, sie nickte anerkennend und doch neidisch.
Das Gebrüll der Untiere, das sie vorher gehört hatten, hatte sich bald wieder entfernt, die Männer drüben auf der anderen Seite der Klamm hatten das Seil neu eingeharzt und zusätzlich noch mit zähflüssigem Murmeltierfett bestrichen, so dass die beiden Frauen trotz aller Fährnisse Muße gehabt hatten, ihr Schuhwerk gegenseitig zu betrachten. Doch jetzt war die notdürftige Brücke wieder bereit, fertig zur nächsten Überquerung. Das Mädchen mit dem Schakalsgesicht hatte wieder
eine ganz andere Technik. Sie hangelte sich, den Körper nach unten hängend, Hände und Knie um das Seil geschlungen, hinüber, man konnte am Muskelspiel ihrer freiliegenden Oberarme erkennen, welche Kraft sie besaß. Auch sie blickte nicht nach unten, sondern sah auf ihre Hände, Griff für Griff, ob diese auch an den richtigen Stellen zupackten. Noch schneller als die anderen hatte sie ihr Ziel erreicht, und schließlich war nur noch die Frau mit dem Lederhut übrig. Mutig geworden durch die geglückten Versuche ihrer Kameraden, kam sie rasch bis in die Mitte der Klamm, die mit dem Sonnenaufgang umso wütender zu toben schien, dann riss das Seil. Sie stürzte in die kalte Tiefe, und ihr Schrei nahm kein Ende.
12
»Der frühe Vogel fängt den Wurm!«
So originell begrüßte der Frühaufsteher Hansjochen Becker den Morgenmuffel Hubertus Jennerwein, der lustlos an seinem ersten Plastikbecher Kaffee schlabberte. Hansjochen Becker wiederum hatte vermutlich schon einige dieser Muntermacher hinter sich. Der Chef der Spurensicherung ging davon aus, dass alle Probleme dieser Welt mit Koffein und ausgefeilter Technik gelöst werden konnten. Er hatte das Gelände um die Skischanze vermutlich schon vor dem Morgengrauen abgesperrt, und eine Armada von antennenstarrenden Messgeräten und nervös flimmernden Outdoor-Rechnern belagerte jetzt den Fuß der Schanze. Beckers Truppe war bereit, die Computerjunkies klebten an den Displays wie die Geckos an den Badezimmerfliesen einer mexikanischen Hazienda. Jennerwein hatte sich die Frage verkniffen, ob so ein Aufwand nötig war angesichts des vagen Verdachts eines alten, wichtigtuerischen Kauzes. Er wusste aber, dass Becker schnell verstimmt war, wenn man ihm in irgendeiner Weise technikkritisch kam. Und manchmal lag er ja mit seinen digitalen Zangenangriffen gar nicht so falsch. Der letzte Fall Jennerweins, in dem es um einen USB -Stick mit brisantem Datenmaterial ging, wäre ohne die Mithilfe Beckers schwerlich gelöst worden. Deshalb ließ Jennerwein den Meisterjongleur stochastischer Stichprobenvarianzen vorerst in Ruhe und gab Anweisung an sein eigenes Team, an die konventionell ermittelnde Fußtruppe, an die schnüffelnden Bullterrier der Kriminalistik, die inzwischen eingetroffen waren:
Hauptkommissar Ludwig Stengele und Kommissarin Nicole Schwattke, verstärkt durch die beiden Ortspolizisten Johann Ostler und Franz Hölleisen.
»Stengele, Sie teilen die Leute ein, die das gesamte Gelände nochmals durchsuchen sollen. Im Areal C bitte ich Sie, besonders auf Spuren des verloren gegangenen Skis zu achten: Holzsplitter –«
»Äh – wie jetzt: Holzsplitter?«, fragte ein sportlich aussehender Polizeimeisteranwärter dazwischen.
»Ja gut, dann eben Plastiksplitter, Lackreste, Eisenteile von der Bindung, was auch immer. Im restlichen Gelände gilt unser Hauptaugenmerk der Pistolen- oder Gewehrkugel, die ja irgendwo liegen muss, falls Angerer recht hat.«
Stengele, Schwattke und die beiden Ortspolizisten nickten.
»Wir machen uns auf den Weg, Chef«, sagte Nicole Schwattke. Die Kommissarin aus Recklinghausen war die Jüngste im Team, und auch die Preußischste, wenn der Ausdruck bei einem westfälischen Hintergrund überhaupt angemessen ist. Sie zeigte auf die wuchtige Auslaufbahn der Sprunganlage. »Das ist ja mal ein ganz anderer Tatort.«
»Ein anderer Tatort als was?«
»Als die üblichen beengten Räume, die wir sonst immer hatten: Speisekammer und Schränke, vollgestopft mit Leichen von Nebenbuhlern und Kronzeugen, Mitwissern, Erbtanten, Erpressern –«
»Wir setzen uns ein Zeitlimit«, sagte Jennerwein. »Wenn wir bis zwölf Uhr mittags keine Kugel gefunden haben, ist die Angerer’sche These vom Tisch. Also, auf geht’s!«
Das kleine
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