Hochsaison. Alpenkrimi
Häuflein der kriminalistischen Infanterie zog nun in das eisverkrustete und vermatschte Gelände, ausgerüstet mit Stöcken, Plastiktüten und einigen Metalldetektoren. Sogar Spürhunde, zwei besonders ausgebildete »Mantrailer«, waren
angefordert worden, sie hatten an dem sichergestellten linken Ski Åges und an seiner Kleidung geschnüffelt und versuchten nun ihr Glück im schmutzigen Gelände. Die beiden Labrador Retriever, die auf die Namen Skylla und Charybdis hörten, hatten allerdings nicht viel Freude am Spurensuchen, vor ein paar Tagen waren hier mehr als zwanzigtausend Menschen durchgelatscht – ein olfaktorischer Tornado schraubte sich durch ihre empfindlichen Nasen.
Am Fuße der Schanze brachte sich die digitale Gebirgstruppe unter dem Oberkommando von Hansjochen Becker in Stellung. Einer der Zwei-Punkt-Null-Freaks biss, ganz klassisch, in einen Hamburger und schüttete Cola in sich hinein, in der er noch extra ein paar zusätzliche Zuckerstückchen aufgelöst hatte. Jennerwein beobachtete das Treiben nachdenklich. Gab es eigentlich einen Grund, warum ausgerechnet der Däne hätte beschossen werden sollen? Müsste man dann nicht eher im Umkreis von Åge Sørensen als hier –
»Wir für unseren Teil sind dann fertig mit den Vorbereitungen«, unterbrach Becker den Gedankengang und deutete mit dem Daumen lässig nach hinten über die Schulter. Jennerwein griff nach einem Fernglas und schaute damit hoch zum Schanzenkopf. An der obersten Ausstiegsluke waren ein paar Figuren zu sehen, die sich langsam und vorsichtig bewegten. Die Hauptfigur trug eine rote Skimütze. Sie saß schon auf dem Balken, nervös zitternd, oder vielleicht auch nur mit Lockerungsübungen beschäftigt, jedenfalls bereit zur Abfahrt ins Tal. An dieser Figur nestelten zwei oder drei Männer herum, sie redeten ihr wohl gut zu und nahmen ihr die Angst. Schließlich wurde die Figur mit der Skimütze von hinten geschubst, und dann schoss sie los. Jennerwein verfolgte sie mit dem Fernglas. Ihr Fahrstil war beherzt, aber ungewöhnlich.
Gisela nahm Fahrt auf, genauso wie es Åge vor ein paar Tagen getan hatte, aber Gisela wollte Åge nicht übertreffen, sie wollte genauso springen wie er, sie war programmiert, genauso wie er zu springen. Gisela war der Stolz der bayrischen Polizei, sie war der einsatzfreudigste Dummy im Bundesgebiet. Gisela hatte schon Dutzende von Autounfällen nachgestellt, sie war zerquetscht, niedergestochen, angekokelt, durchsiebt, ertränkt, überfahren und in die Luft geschleudert worden – sie hatte jedes Mal ihre finalen Daten brav an die gierigen Rechner der Spurensicherer abgeliefert. Und Becker schickte sie heute, an ihrem freien Tag, wieder los. Sie war seine Wunderwaffe.
Sie war ein wenig abgespeckt worden, um auf Sørensens Gewicht zu kommen. Man hatte die Fernsehbilder analysiert und die gewonnenen Daten umgesetzt: Anfahrtsgeschwindigkeit, Absprungswinkel, Verhalten in der Luft. Die Skifirma hatte darüber hinaus noch die Originalbretter zur Verfügung gestellt, nicht ohne vorher den guten Markennamen mit schwarzem Tape abgeklebt zu haben. Jennerwein hatte bis dahin nicht gewusst, dass solche Skier das Jahresgehalt eines Beamten kosteten. Eines hohen Beamten im Innenministerium.
Man hatte vor, Gisela zu beschießen. Daran war sie gewöhnt, sie war mit ihrer Propylenhaut nach manchem Kugelhagel wiederauferstanden, und man hatte danach immer ganz genau gewusst, ob der Schuss aus dieser und jener Entfernung und in dem und dem Winkel tödlich gewesen wäre oder nicht. Heute sollte sie allerdings gar nichts abbekommen, man hatte vor, ihren rechten Ski genau an der Stelle zu treffen, auf die Angerer gezeigt hatte. Becker hatte mit den Seinen überlegt, ob man den Beschuss nicht händisch durchführen sollte, von einem oberfränkischen Polizeiobermeister, der 1992 in Barcelona die Bronzemedaille im Tontaubenschießen gewonnen hatte. Und auch Oberforstrat Willi Angerer hatte sich erbötig gemacht, seine jägerischen Schießkünste ins Spiel zu bringen, nachdem er
von dem Plan auf verschlungenen Wegen erfahren hatte. Doch man kam schließlich überein, eine automatische, computergesteuerte Waffe zu benützen, die wesentlich genauere Ergebnisse lieferte. Angerer war beleidigt.
Das computergesteuerte Ding, das da unten aufgebaut war, glich weniger einem Gewehr als einem verrosteten Blasrohr, einem Requisit aus einem Splatter-B-Movie, das die Bahn von Gisela verfolgte und ihren Ski am Höhepunkt des Zenits
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