Hochsaison. Alpenkrimi
Aus einer Tasche ragte, natürlich, ein Romanheftchen, den Titel konnte man nicht lesen.
»Nein«, sagte Shan, »wir brauchen sie nicht mehr. Wir machen sie noch sauber, dann bringen wir sie heute noch runter zu Ihnen. Okay?«
Margarethe Schober versuchte einen Blick in den Raum zu erhaschen. Shan war nicht sicher, ob die Direktrice nicht noch etwas
auf dem Herzen hatte. Sie nahm sich vor, diese Frau zu beobachten.
40
»Ein starkes Stück«, sagte Ludwig Stengele. »Der macht mit uns, was er will.«
Der Mesner war mit dem Brief in aller Frühe zum Revier geeilt und hatte ihn dem Frühschichtler Ostler in die Hand gedrückt.
»Haben Sie ihn geöffnet?«, fragte Ostler.
»Wo denken Sie hin?«
»Warum bringen Sie den Brief dann hierher? Wenn Sie ihn nicht geöffnet und gelesen haben, dann können Sie doch gar nicht wissen, dass –«
»Gut, gut, ich gebe es zu. Ich habe ihn geöffnet und gelesen.«
»Tut man denn das?«
»Lesen?«
»Lügen.«
»Nein, tut man nicht, ich schäme mich ja schon.«
»Drei Ave-Maria«, sagte Ostler.
»
Zwei
Ave-Maria. Für kleine Lügen gibt es zwei Ave-Maria, mehr nicht.«
»Sie müssen es ja wissen.«
»Ich erledige das gleich beim Rückweg.«
»Ja, tun Sie das. Und noch was.«
»Ja?«
»Kein Wort zu irgendjemanden. Versprochen?«
»Versprochen.«
Nach einem Rundruf Ostlers war die SoKo Marder sofort zusammengekommen. Die Spurensicherer waren schon da, als Jennerwein und die Seinen im Revier eintrafen. Das spillerige Männchen pinselte schon eifrig an dem Blatt Papier und dessen Umschlag herum, die Frau mit der starken Brille betrachtete den Brief noch zusätzlich mit einer Lupe und machte sich Notizen.
Dann nahm Hansjochen Becker das zerknitterte Bekennerschreiben mit einer Pinzette auf, betrachtete es kopfschüttelnd und steckte es in eine Plastiktüte.
»Bezüglich der daktyloskopischen Spuren brauche ich Ihnen wohl kaum Hoffnungen zu machen«, sagte er.
»Das dachten wir uns schon«, sagte Jennerwein. »Gibt es trotzdem irgendeinen Anhaltspunkt, mit dem wir etwas anfangen können?«
»Ich habe auf Anhieb zehn verschiedene Fingerabdrücke gefunden«, sagte das Pinselchen. »Es sind vermutlich noch mehr.«
»Der Marder hat also möglichst viele Leute das Briefpapier anfassen lassen«, sagte Stengele.
»Doch damit nicht genug«, sagte die Brille. »Er hat den Brief zusätzlich noch in Wasser getaucht, zerknittert, mit Fett bespritzt und was sonst noch alles. Sehen Sie, an einer Seite ist er sogar ein bisschen angekokelt. Ein richtiges Gewurle von Spuren auf engstem Raum. Wie aus einem Lehrbuch.«
»Das ist schon faszinierend«, fügte Becker bewundernd hinzu. »Dieser Brief wird uns einige Zeit beschäftigen.«
»Gibt’s denn das!«, rief Nicole. »Dass uns jemand so provozieren darf? Dieser Marder muss sich seiner Sache ja ziemlich sicher sein.«
»Das ist unsere Chance«, sagte Becker. »Wir wollen mal hoffen, dass er sich seiner Sache irgendwann einmal
zu s
icher wird. Dass er bei seinem Spurenzirkus hier zum Beispiel einen Fehler
gemacht hat. Aber wenn nicht, dann ist das hier, mit Verlaub gesagt, ein kleines Kunstwerk.«
»Also doch ein ehemaliger Polizeibeamter?«, warf Ostler ein. »Vielleicht sogar ein Spurensicherer? Weil er sich doch in diesem Bereich gar so gut auskennt.«
»Es ist heutzutage kein großer Aufwand mehr, sich darüber zu informieren«, sagte Becker. »In den Buchhandlungen wimmelt es von populärwissenschaftlicher Fachliteratur, täglich werden ganze Schulklassen durch Polizeidienststellen getrieben – manchmal eine wirkliche Plage.«
»Zum Thema Schulklasse danach noch mehr«, sagte Ostler. Alle beobachteten die kleine stumme Szene, wie Becker, die Brille und das Pinselchen nacheinander an dem Brief schnüffelten.
»Das alles deutet auf infantile Regression hin«, sagte Maria, als die Beckeronis ihre Schätze verstaut hatten und gegangen waren.
»Sie meinen, er ist ein großes Kind?«, fragte Stengele.
»Das kann man sagen. Ein großes, gefährliches Kind, ja. Mit viel krimineller Energie –«
»– und viel Freizeit«, unterbrach Jennerwein. »Um das alles vorzubereiten, muss man sehr viel Zeit haben.«
»Ein Rentner? Ein Jugendlicher?«
»Rentner und Jugendliche sind die Bevölkerungsgruppen, die heutzutage am wenigsten Zeit haben«, sagte Jennerwein.
»Ich würde sagen, dass er sein pathologisches Bedürfnis, Menschen in Gefahr zu bringen, mit allerlei Schnickschnack überdeckt und dadurch legalisiert«, sinnierte
Weitere Kostenlose Bücher