Hochsaison. Alpenkrimi
Maria weiter.
»Mit Geschichten vom Pferd sozusagen«, sagte Nicole Schwattke.
»Ja, genau. Er tut so, als ob er ein Spiel spielt, er will aber nur eines: Macht. Er will Macht über Menschen haben, er muss wichtig sein, er braucht die Aufmerksamkeit von vielen Leuten.
Er erzählt uns Geschichten, und will uns damit von
einer
Geschichte ablenken, nämlich seiner. Soweit ich weiß, gibt es einen Ausdruck dafür:
Mythomanie
. Das ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Ein Mythomane ist einer, der anstatt einer Antwort zehn Antworten gibt. Ich gebe dazu ein Beispiel.«
Maria stand jetzt auf und schritt auf und ab, was ihr etwas Professorales gab.
»Ein Kind hat in der Speisekammer genascht. Die Eltern kommen heim und sehen dem Kind an, dass es etwas ausgefressen hat. Das Kind sucht nach einer Strategie. Anstatt das kleine Delikt abzustreiten oder zuzugeben, erzählt das Kind, dass es den Goldhamster freigelassen hat, Tinte auf dem Teppich verschüttet hat, im Schuppen mit Streichhölzern gezündelt hat, was weiß ich. Es glaubt, dass es die wahre Geschichte unter vielen erfundenen Geschichten verstecken kann. Irgendwann fliegt das natürlich auf, aber für den Moment funktioniert die Strategie. Wenn dieses kindliche Verhalten bis ins Erwachsenenalter anhält, sprechen wir von infantiler Mythomanie. – Nur eine Theorie.«
»Nur eine Theorie, ja freilich«, sagte Ostler. »Aber es gibt einen im Ort, auf den die Beschreibung zutrifft.«
Ostler berichtete kurz vom Zither Beppi und seinen wilden Geschichten. Alle im Raum hatten ihn schon einmal gesehen, er war
oben auf dem Schachen bei dem Lawinenabgang dabei gewesen.
»Das entspricht genau dem Profil der Mythomanie!«, rief Maria begeistert.
»Er steht ja ohnehin auf der Liste der Verdächtigen«, sagte Jennerwein. »Den werden wir uns später gleich vornehmen.«
Maria stand auf und beugte sich über den Tisch, um sich die Kaffeekanne zu holen, Jennerwein blickte zerstreut in ihre Richtung. Doch plötzlich griff er sich mit Daumen und Mittelfinger
an die Schläfenlappen und massierte sie mehrmals. Er stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch auf und atmete, den Kopf nach unten gesenkt, scharf durch.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Chef?«, fragte Stengele, der ihn beobachtet hatte, leise.
»Ja, alles in Ordnung«, murmelte Jennerwein, ohne sich aufzurichten. »Mit ist nur etwas eingefallen. Machen Sie weiter, ich höre zu.«
»Er will etwas verdecken, der Täter. Das scheint mir plausibel«, sagte Nicole Schwattke in die entstandene Pause hinein. »Wir haben einen Serientäter, der zweimal zugeschlagen hat und der weitere Anschläge ankündigt. Wenn er nun mit der Behauptung, er spiele nur und es reize ihn nur das Abenteuer, einen wirklich kaltblütigen Mord verdecken will, der entweder schon geschehen ist oder der noch in der Zukunft liegt?«
»Das ist möglich. Da gibt es Präzedenzfälle«, sagte Maria und rührte geräuschvoll in ihrer Kaffeetasse. »Zum Beispiel die McKenzy-Morde in Oklahoma City. In den Neunzigern gab es dort eine Serie von Polizistenmorden. Die Profiler gingen natürlich von einem perversen Polizistenhasser aus. Das war aber eine bewusst falsch gesetzte Fährte. Phoebe McKenzy, eine der Witwen, hatte ihren Mann getötet, um die Lebensversicherung zu kassieren. Sie lenkte den Verdacht von sich ab, indem sie weitere Polizistenmorde beging und so eine Serie vortäuschte. Die Polizei kam jahrelang nicht drauf.«
Jennerwein hatte sich wieder aufgerichtet. Stengele warf ihm einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu. Es schien ihm, dass
der Kommissar etwas blass geworden war.
»Ich gehe trotzdem von einem Spieler aus«, sagte Jennerwein. »Ich sehe im Marder keinen Täter, den eines der herkömmlichen Motive wie Mordlust, Geldgier, politischer Fanatismus oder andere niedrige Beweggründe antreibt. – Hölleisen und
Ostler, haben Sie sich Gedanken über einheimische Kandidaten gemacht?«
Die beiden Revierpolizisten standen auf und drehten ein Flipchart um, auf dem eine Liste zu sehen war.
1. Einer der Mitarbeiter der Agentur IMPOSSIBLE
»Diese Mitarbeiter sind zwar größtenteils keine Einheimischen«, sagte Ostler, »aber alle kennen sich sehr gut aus in den umliegenden Bergen. Unser Marder muss mehr als nur alpinistische Grundkenntnisse besitzen.«
»Das Motiv?«, fragte Jennerwein.
»Kein wirkliches Motiv, vielleicht wurde nur der absolute Super-Event angeboten, der noch nie da gewesene Nervenkitzel
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