Hochsaison. Alpenkrimi
probehalber einen Schlag in die Luft durch. Derart gerüstet, stapfte der Mesner langsam die Treppe hinauf, doch da oben war niemand zu sehen. Ein Brief lag auf dem Boden. Er öffnete ihn. Die Schrift war steil und streng aufwärts gerichtet, in den Oberlängen flatterte sie, als würde sie brennen. Dem Mesner wurde Angst und Bange.
Sehr geehrter Herr Kommissar Jennerwein,
zuerst dachte ich daran, mein Schreiben in den Klingelbeutel der Kirche zu stecken – auch das wäre ein Novum gewesen in der langen Geschichte der Ablageplätze von Bekennerschreiben. Aber ich wollte einen gewissen Gesamteindruck nicht verderben. Wir hatten es bei den bisherigen Anschlägen mit Höhe zu tun, der nächste Anschlag soll auch hoch droben stattfinden, also schien mir diese Art der Ablage besonders geeignet. Und das bei meiner Höhenangst! Ich bin schon in Behandlung gewesen wegen dieser ›Akrophobie‹, aber bei mir fruchtet das alles nichts, da helfen keine Pillen, keine Therapiesitzungen, keine Hochseilgärten. (Muss natürlich wieder nicht stimmen, das mit der Höhenangst, aber wir brauchen uns inzwischen ja nichts mehr vorzumachen.) Aber es wird höchste Zeit, ein paar Punkte zu klären, die mir wichtig sind:
1. Es ist nicht zu übersehen: Auch diesen Brief habe ich wieder handschriftlich verfasst und ihn an einem realen Ort hinterlegt. Da brauchen Sie gar nichts hineinzugeheimnissen, das hat den ganz einfachen Grund, dass diese altmodische analoge Kommunikation inzwischen wieder die sicherste aller Mitteilungsformen geworden ist. E-Mail? Internet? Bluetooth? Handy? Da habe ich zwanzig Spezialisten von Ihnen am
Hals, die sich auf die Füße treten. Alles Digitale kann geortet, entschlüsselt, zurückverfolgt werden – und die technischen Möglichkeiten, so einen Fingerabdruck aus Bits und Bytes im Netz zu identifizieren, werden immer ausgefuchster, aber wem sage ich das. Eine Handschrift hingegen kann ich noch ganz klassisch verstellen. Haben Sie überhaupt einen Graphologen oder Schriftsachverständigen an der Hand? Wenn ja, dann schalten Sie ihn ein. Und Sie werden sehen: Er wird lediglich eine Expertise vorlegen, dass diese Handschrift hier mit einer Wahrscheinlichkeit von über neunzig Prozent verstellt ist. Ganz tolle Erkenntnis! Bringt Sie keinen Schritt weiter!
2. Die Kommunikation zwischen uns beiden, lieber Herr Kommissar, ist eine Einbahn-Kommunikation. Das funktioniert so: Ich schreibe Briefe – Sie lesen sie. Sparen Sie sich die Mühe, Kontakt mit mir aufzunehmen. Wir werden das erste Mal miteinander sprechen, wenn Sie mich geschnappt haben. Vielleicht also nie.
3. Damit sind wir gleich bei unserer Rollenverteilung. Die liegt auf der Hand: Ich verübe Anschläge – Sie versuchen mich daran zu hindern. Versuchen Sie mich aber nicht darüber zu belehren, dass meine Aktionen sinnlos oder destruktiv, gesetzlos und allgemeingefährlich sind. (Ich mische mich ja auch nicht in Ihre Arbeit ein.) Hetzen Sie nicht Ihre wahnsinnig gut ausgebildeten Psychos auf mich, ihre Kommunikationsspezialisten und verbeamteten Klugschwätzer, das führt zu nichts. Den ersten Profiler, den ich sehe, erschieße ich.
4. Das Spiel läuft so lange, bis ich einen Fehler mache. Das kann schon beim nächsten Anschlag sein, beim siebten oder beim dreißigsten. Bedenken Sie: Ich bin kein Psychopath mit schwerer Kindheit, ich bin kein verblendeter Fundamentalist mit wirren Botschaften, ich will die Welt nicht retten oder verändern, ich bin ein ernsthafter Spieler mit hohem Einsatz.
5. Es ist wirklich schön, mit Ihnen (wenn auch einseitig)
zu plaudern, Herr Kommissar, aber für heute muss ich leider schließen. Ich bin etwas in Eile, ich habe mir einen Termin gesetzt für den nächsten Anschlag, und dafür muss ich noch einiges googeln. Wo bekommt man zum Beispiel schnell wirkendes, nicht gleich nach Gift schmeckendes Gift her? Wie lange überlebt ein Mensch im Kühlschrank? Wie ist das eigentlich mit den durchschnittenen Bremskabeln – bringt das was? So viele Berichte, so viele Fragen.
Mit vielen Grüßen, auch an Ihr Team – Ihr vielbeschäftigter Serientäter
PS : Der nächste Anschlag kommt schnell und beherzt – also Augen auf!
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Jusuf drückte ein Ohr an die Wand, er hatte die Waffe immer noch im Anschlag. So stand er minutenlang hochkonzentriert da. Mit dem bloßen Ohr war nichts zu hören. Er sah sich um. Auf einer Anrichte in der Nähe des Eingangs stand eine Flasche Mineralwasser mit zwei Trinkgläsern. Er
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