Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
er so lange nichts von sich hatte hören lassen. »Als ich die Neuigkeiten las, war ich zu Tränen gerührt«, schrieb sie. »Ich hatte es immer gehofft und gewusst, dass Sie das eines Tages schaffen würden, Moritz. Grüßen Sie Lea unbekannterweise von mir. Sie muss eine wundervolle Frau sein.«
Ihr selbst ginge es gut, berichtete sie im folgenden Absatz, aber die Arbeitsbedingungen seien furchtbar. Sie hätte noch nie so viel Leid gesehen. Gleichzeitig müsse sie täglich um ihr Leben fürchten. »Mir kommt es so vor, als ob ich einem ganzen Kontinent unter dem mitleidigen Blick der westlichen Welt Sterbehilfe leisten würde. Ganz Afrika blutet vor Hunger, Krankheiten und Gewalt. Trotzdem gibt es Augenblicke der Hoffnung. Gestern konnte ich einem kleinen Mädchen das Leben retten. Stellen sie sich vor, der Medizinmann des Dorfes hatte ihr ein Ekzem am Po mit Batteriesäure ›behandelt‹.«
Er fragte sich, wie sie mit all diesen Belastungen zurechtkam. Ende November würde sie zurückkommen. Sie würde sich sehr freuen, ihn einmal wiederzusehen.
Am Ende des Briefes stand:
» PS : Besorgen Sie uns einen guten Tee!«
Er musste lächeln.
Es war kurz vor neun, als Lea zu Moritz Kepplinger in den Wagen stieg und sich danach erkundigte, wohin die Fahrt gehen sollte.
»Lass dich doch überraschen«, wiederholte Moritz seine Absichten.
»Also gut.«
Er lenkte den Wagen auf die Autobahn. Kurz vor dem Ziel bat er sie darum, ihr die Augen verbinden zu dürfen. Lea lachte.
»Möchtest du mich auf einem einsamen Waldparkplatz verführen?«
»So ähnlich«, sagte er scherzhaft.
»Na, da bin ich aber gespannt.«
Nach zehn Minuten stellte er erneut den Motor ab. Sie waren da.
Er nahm Lea das Tuch vom Kopf, und sie sah sich neugierig um.
»Wo sind wir? Was ist das für ein Gebäude?«
»Die Hochschule der Polizei«, antwortete er. »Ich würde sie dir gerne zeigen, wenn du möchtest.«
Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Lea war sprachlos. Aber dann lächelte sie.
»Sehr gerne! Das ist eine coole Idee!«
An der Pforte trafen sie den Hausmeister, mit dem Moritz am Abend zuvor telefoniert hatte, und erhielten einen Zent ralschlüssel.
»Wir bringen ihn bald zurück.«
»Nur keine Eile. Ist ja nix los am Wochenende.«
Er führte Lea über den Campus. Zeigte ihr Lehrsaalgebäude, Cafeteria, Sporthalle und die 400-Meter-Rundbahn, auf der er immer gelaufen war. Lea blieb einige Zeit vor der Bibliothek stehen und betrachtete die vielen Regale.
»Hier könnte ich mich stundenlang aufhalten«, sagte sie leise.
Schließlich führte er sie in sein ehemaliges Zimmer. Es stand immer noch leer.
Lea setzte sich an den Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Auf einmal war sie sehr schweigsam.
Auf der Rückfahrt brach sie ihr Schweigen.
»Danke, das war ein sehr schöner Einfall, Moritz.« Sie legte ihm ihre Hand auf den Oberschenkel. »Ich werde am Montag meine Bewerbung schreiben.«
EPILOG
10. November 2013
D ie eisige Kälte, die ihm am frühen Morgen nach dem Bustransfer von der griechischen Hauptstadt in das rund vierzig Kilometer entfernte Marathon entgegengeschlagen war, hatte er längst vergessen. Eineinhalb Stunden nach dem kollektiven Frieren mit rund zweitausendsechshundert Athleten aus der ganzen Welt fiel die Anspannung mit dem Startschuss von ihm ab. Zuvor hatte er zusammen mit seinen Mitstreitern feierlich den marathonischen Eid geschworen – eine Tradition, die ihm zu Beginn befremdlich erschien, sich im Nachhinein jedoch als eindrucksvolles Erlebnis offenbart hatte. Jetzt war er seit ü ber einer Stunde auf jener sagenumwobenen Strecke unterwegs, die der Botenläufer Pheidippides vor ungefähr 2500 Jahren nach der Schlacht von Marathon zurückgelegt hatte, um auf dem A reopag – einem Steinmonument in der Mitte Athens, auf dem der oberste Rat der Stadt tagte – die Siegesnachricht über das Heer des persischen Großkönigs Dareios zu verkünden.
Die aufgehende Sonne hatte die Temperaturen, die am Morgen noch um den Gefrierpunkt gelegen hatten, rasch in angenehme zwanzig Grad verwandelt. Ein wolkenloser Himmel kündigte einen perfekten Tag auf der Halbinsel Peloponnes an. Immer wieder blickte er auf die endlose tiefblaue Oberfläche des Saronischen Meeres, das still und unscheinbar bis an die Stadt heranreichte und ohne erkennbares Ufer mit ihr zu verschmelzen schien. Die ersten dreizehn Kilometer des Rennens waren überwiegend flach verlaufen. Nachdem er eine weitere Kilometermarke passiert
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