Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Gehen.
»Warten Sie einen Augenblick. Arbeiten Sie regelmäßig in der Ambulanz?«
»Sicher.«
»Waren Sie heute Morgen hier, als eine gewisse Susanne Jessen eingeliefert wurde?«
»Sicher.«
»Erinnern Sie sich an den Exmann, der später dazukam?«
»Sicher.«
Kepplinger ärgerte sich über die lässige Art seines Gegenübers, der um einiges jünger war als er. Doch dann konzentrierte er sich wieder auf den Grund seiner Befragung.
»Wo ist dieser Mann jetzt?«
»Keine Ahnung. Bis vor einer knappen halben Stunde saß er noch genau auf dem Platz, auf dem Sie jetzt sitzen.«
»Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen?«
»Nein, was denn?«
»Ich weiß es nicht, Sie haben ihn doch gesehen. Wie hat er sich verhalten? War er aufgeregt? Traurig? Besorgt? Irgendwas in der Richtung?«
»Nein. Der saß nur da und hat vor sich hingestarrt.« Endlich gewann Kepplinger den Eindruck, dass der junge Mann sich bemühte nachzudenken.
»Warten Sie. Ein paarmal ist er nach draußen gegangen und hat eine geraucht. Einmal habe ich gesehen, wie er telefoniert hat.«
Kepplinger versuchte, sich die Situation vorzustellen.
»Hat er nicht mit den behandelnden Ärzten sprechen wollen?«
»Doch.«
»Und? Hat er?«
»Soweit ich weiß, nicht. Man kann ja bis jetzt nichts Ge naues über den Zustand der Frau sagen.«
»Und seit ungefähr einer halben Stunde ist er weg?«
»Genau.«
Ein weiß gekleideter, ungefähr dreißigjähriger Mann betrat den Raum. Es war offensichtlich, dass er unter Zeitdruck stand. Er trug eine Brille mit runden Gläsern, die Kepplinger sofort an Mahatma Gandhi erinnerte, und der Arzt wirkte auf den ersten Eindruck auch ebenso galant wie der indische Menschenrechtler. Kepplinger erhob sich und stellte sich vor. Sie reichten sich die Hände.
Alexander Giebel kam ohne Umschweife zur Sache.
»Frau Jessen geht es nicht gut.«
»Ich kann also nicht mit ihr sprechen?«
»Das ist im Moment völlig undenkbar. Ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis sich ihr Zustand stabilisiert.«
Kepplinger hob fragend die Augenbrauen.
»Mir wurde gesagt, Frau Jessen hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten.«
»Das ist nicht ganz richtig. Ein Nervenzusammenbruch ist keine wissenschaftliche Diagnose. Vielmehr eine laienhafte Zustandsbeschreibung für eine Person mit einer möglichen psychischen Erkrankung. Aber das ist im Moment unsere kleinste Sorge. Frau Jessen hat einen schweren Schock. Dazu kommen einige Vorerkrankungen, über die wir noch nichts Genaues wissen. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich im Augenblick nicht mehr dazu sagen kann.«
Die Stimme des Mediziners klang freundlich, aber bestimmt.
Kepplinger zeigte Verständnis und stellte eine letzte Frage.
»Wissen Sie, wohin der Mann von Frau Jessen gegangen ist?«
»Nein, ich habe ihn nur einmal kurz hier sitzen sehen.« Alexander Giebel deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Sitzgruppe.
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein. Er hat wohl mehrfach danach verlangt. Als ich mir die Zeit nehmen konnte, war er weg.«
»In Ordnung. Danke für die Auskünfte.«
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen im Moment bei Ihrer Suche nicht weiterhelfen kann. Ich würde es gerne tun. Rufen Sie mich um die Mittagszeit nochmals an, dann wissen wir vielleicht mehr. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«
Er verließ den Raum so schnell, wie er gekommen war. Der echoartige Widerhall der energischen Schritte, der sich im Verhältnis zur Geschwindigkeit, mit der sich der Arzt entfernte, nur unbedeutend leiser wurde, klang beinahe unheimlich.
Kepplinger beschlich ein ungutes Gefühl. Er wusste, dass er keine brauchbaren Erkenntnisse gewonnen hatte. Wieder erklang der Hilferuf des Mannes durch die Halle. Kepplinger wandte sich zum Gehen.
Während er das Klinikum durch die scheinbar endlosen Gänge verließ, überlegte er, was als Nächstes zu tun war. Er musste schnellstens Gerd Jessen ausfindig machen und herausfinden, ob die kleine Manuela wirklich verschwunden war. Mit dem, was ich jetzt weiß, könnte es sich immer noch um eine Verkettung von Irrtümern und Missverständnissen handeln, dachte er. Vielleicht sitzt das Mädchen mittlerweile brav in der Schule und lernt Mathe oder Deutsch.
Er hatte oft genug Vermisstenanzeigen bearbeitet, die in Wahrheit keine waren. Entweder reagierten die Anzeigeerstatter übersensibel oder die scheinbar Vermissten waren absichtlich von zu Hause abgehauen. In diesem Fall jedoch deutete bislang nichts
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