Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
auf eine einfache Erklärung hin. Kurz bevor er den Haupteingang erreicht hatte, hörte er plötzlich laute Schritte. Er drehte sich um und erkannte den Bufdi.
»Warten Sie … mir ist … noch etwas eingefallen.«
Der Junge schnaufte wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wieder normal sprechen konnte.
»Dieser Mann, nach dem Sie gefragt haben.«
»Gerd Jessen? Was ist mit ihm?«
»Mir ist aufgefallen, dass er sich überhaupt nicht dafür interessiert hat, wie es seiner Frau geht.«
Das war tatsächlich eine interessante Beobachtung.
»Das ist doch nicht normal?«
»Die beiden sind geschieden, dennoch haben Sie recht.«
Kepplinger überlegte.
»Er wollte also nur mit dem behandelnden Arzt sprechen, sagten Sie?«
»Genau.«
»Er hat eine Stunde gewartet, ein paar Zigaretten geraucht, telefoniert und ist dann wieder gegangen?«
»Richtig.«
Kepplinger klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Gut, dass Sie nochmal darüber nachgedacht haben. Danke für die Information.«
»Kein Problem.«
Als er zurück am Wagen war, knurrte sein Magen. Am Morgen hatte er nur einen Müsliriegel gegessen. Etwas anderes war in der Wohnung nicht zu finden gewesen. Dafür ist jetzt keine Zeit, sagte er sich und griff nach seinem Mobiltelefon.
Kepplinger wählte die Nummer seines neuen Chefs. Als Erstes muss Gerd Jessen gefunden werden, dachte er während das Freizeichen ertönte. Danach fahre ich in der Schule vorbei.
Am Telefon meldete sich Franziska.
»Du?«, fragte er erstaunt. »Ich wollte den Chef sprechen.«
»Moritz, bist du es?« Ihre Stimme klang nervös. »Mensch, du hast deine Handynummer nicht hinterlegt. Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen.«
»Tut mir leid. Daran habe ich heute Morgen nicht gedacht. Ich muss dringend Brandstätter sprechen.«
»Er ist nicht hier. Montags um diese Zeit ist Leiterbesprechung bei der Direktion.«
»Kannst du bitte beim Einwohnermeldeamt rausfinden, wo dieser Gerd Jessen wohnt. Ich weiß nur, dass es Salach sein muss.«
Sie antwortete prompt. »Das ist, glaube ich, nicht notwendig.«
Moritz stutzte.
»Wieso nicht?«
»Er sitzt hier, im Aufenthaltsraum.«
»Was?«
»Jessen ist vor einer Viertelstunde hier aufgekreuzt und besteht darauf, mit dem zuständigen Sachbearbeiter der Kriminalpolizei zu sprechen«, sagte Franziska.
»Gut, ich bin in ein paar Minuten da, lass ihn auf keinen Fall gehen.«
»Da mach dir mal keine Sorgen.«
Er warf das Mobiltelefon auf den Beifahrersitz, drückte das Gaspedal durch und raste über die Bahnbrücke zurück zur Dienststelle.
Lea Thomann hatte keine Minute geschlafen und ging stattdessen unruhig in ihrer Zweizimmerwohnung auf und ab. Ständig musste sie an die Ereignisse der vergangenen Stunden denken. Die Bilder der Unfallstelle ließen sie einfach nicht los. Wenn sie die Augen schloss, und sei es nur, um mit den Händen die müden Augenlider zu massieren, sah sie den Motorradfahrer in den Flammen umhergehen und zu Boden stürzen. Starrte sie an die Wand oder auf die immer gleichen Musikvideos auf dem Bildschirm, musste sie an das Kind denken. Die zehnjährige Manuela und deren Mutter, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. An den widerwärtigen Mann, dem sie alles zutraute und der sie so sehr an ihren eigenen Vater erinnerte.
Vielleicht hatte er das Kind entführt, getötet oder sonst etwas mit ihm angestellt, dachte sie. Möglicherweise stimmte die Geschichte vom Kegelwochenende gar nicht. Vielleicht war er ja mit ihr in die Berge gefahren, und es hat einen Unfall gegeben. Oder er hat ihr absichtlich etwas angetan. Eine Eifersuchtstat womöglich. Wie oft hatte sie in Polizeiberichten von solchen Motiven gelesen. Immer wieder dachte sie an eine Szene aus Der Hammermörder . Der Spielfilm basierte auf einer wahren Begebenheit Mitte der Achtzigerjahre, die sich in den nahegelegenen Landkreisen Ludwigsburg und Waiblingen abgespielt hatte. Der Täter, ein Polizeibeamter, hatte wegen hoher Schulden mehrere Banken überfallen und dabei einen großen Vorschlaghammer mitgeführt. Kurz vor den Überfällen hatte er sich immer Fluchtfahrzeuge besorgt, und zwar indem er die Fahrer, die auf einsamen Waldparkplätzen geparkt hatten, kaltblütig erschoss. Kurz bevor er gefasst wurde – als Polizeibeamter war er über die Ermittlungen seiner Kollegen stets informiert –, erschoss er die Ehefrau und einen seiner beiden Söhne. Anschließend fuhr er mit dem jüngsten Sohn 1400 Kilometer nach
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