Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
beinhaltet. Seufzend legte er den Gang ein. Wenige Hundert Meter später lenkte er den Wagen auf einen der Besucherparkplätze am Haupteingang der Klinik.
An der Pforte erfuhr er, dass sich Susanne Jessen noch in der psychiatrischen Ambulanz befand und nicht besucht werden konnte.
Kepplinger hielt seinen Dienstausweis gegen die Glasscheibe und erklärte, dass er in diesem Fall mit dem dienst habenden Arzt sprechen wollte. Der Pförtner griff befehlsgemäß zum Telefon und hatte offenbar Schwierigkeiten, seinem Gesprächspartner zu erklären, dass es sich bei dem Besucher um einen Kriminalbeamten handelte. Er gestikulierte wild und deutete immer wieder auf Kepplinger, der die Szene ungeduldig verfolgte. Endlich legte er den Hörer beiseite, erklärte ihm den Weg zur Ambulanz und verwies ihn an den Assistenzarzt Giebel.
Auf dem Weg dorthin ging Moritz nochmals alle Details durch, die er in dem Telefonat mit seinem Kollegen von der Schutzpolizei erhalten hatte. Die Frau hatte am frühen Morgen einen Nervenzusammenbruch erlitten und war bis zum Eintreffen der Streifenbesatzung im Krankenhaus nicht ansprechbar gewesen. Einer ersten Vernehmung mit dem Exmann zufolge war dieser das gesamte Wochenende mit seinem Kegelclub im Bregenzer Wald gewesen. Die Nacht von Sonntag auf Montag hatte er bei einer Freundin in Donzdorf verbracht. Gegen halb sechs war er von dort losgefahren, um sich vor der Arbeit in seiner Wohnung noch umzuziehen. Dort traf er auf seine Exfrau, die davon ausgegangen war, die gemeinsame Tochter hätte das Wochenende mit ihm verbracht. Mehr Informationen, vor allem über den Verbleib der Tochter und mögliche Aufenthaltsorte, hatten die uniformierten Kollegen nicht in Erfahrung bringen können. Schließlich dachte er an den Hinweis, dass sich der Exmann am Morgen äußerst feindselig verhalten hatte und polizeilich bekannt war. Unter anderem wegen seiner Gewalttätigkeit.
Moritz Kepplinger war auf alles gefasst, als er durch eine automatische Glasschiebetür in den Empfangsbereich der psychiatrischen Ambulanz trat.
Er hatte eine hektische Betriebsamkeit erwartet, wie er sie von anderen Kliniken kannte. Stattdessen empfing ihn eine geradezu beängstigende Stille. Die hohe Stuckdecke und die Größe des Raumes verstärkten dieses Gefühl. Kepplinger fühlte sich an ein Kirchenschiff erinnert. In einer Ecke befanden sich ein kleiner Büroarbeitsplatz und eine Sitzgruppe mit vier Stühlen samt Beistelltisch. An der rechten Fensterfront wucherten riesige Kenia-Palmen über zwei Stockwerke in die Höhe. Die mächtigen Stämme steckten in mannshohen Pflanztrögen aus Fiberglas. Der gesamte Bereich wirkte wie ausgestorben. An den Wänden hingen Keilrahmen, die Patienten der Klinik bemalt hatten. Neben jedem Werk war eine kleine Karte angebracht mit Bildtitel sowie dem Namen des Malers und auf welcher Station er sich befand.
Irritiert betrachtete Moritz die Bilder, in denen Braun- und Schwarztöne dominierten und die seltsam klingende Titel trugen, wie: Mann in Ecke sitzend , Depression oder Schlangenspirale . Plötzlich durchschnitt aus einem der oberen Stockwerke ein markerschütternder Schrei die Halle. Das entstehende Echo verstärkte den hoffnungslos klingenden Klageton um ein Vielfaches und fuhr Kepplinger durch Mark und Bein.
»Versuchen Sie, das zu ignorieren. Er denkt, wir seien Außerirdische, die ihn zum Frühstück bei lebendigem Leib vernaschen wollen.« Die Stimme gehörte einem jungen Mann mit schulterlangen Rastalocken und ungepflegtem Drei-Tage-Bart. Er trug einen blauen Kasack. Darunter eine Arzthose und Birkenstocksandalen. Ohne Zweifel handelte es sich um einen Praktikanten oder jemand, der sich im Rahmen des BFD freiwillig engagierte. »Sind Sie der Polizist?«
Er näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter. Kepplinger trat einen Schritt zurück und zeigte seinen Dienstausweis. Sein Gegenüber musterte das Dokument gewissenhaft.
»Und Sie? Mit wem habe ich die Ehre?«
»Sorry – hier nennen mich alle Tim.« Der Halbwüchsige wandte sich augenzwinkernd von seinem Ausweis ab. »Oder einfach nur Bufdi«, fügte er lachend hinzu.
»Ich möchte gerne mit Herrn Giebel sprechen.«
Tim deutete mit einer Handbewegung auf die Sitzgruppe.
»Alex ist gerade auf Station. Es wird nicht lange dauern.«
Moritz Kepplinger nahm Platz und blickte gewohnheitsmäßig auf seine Armbanduhr.
»Möchten Sie was trinken?«
Kepplinger verneinte und lehnte sich zurück. Der junge Mann wandte sich zum
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