Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Brindisi an die Südspitze Italiens. Die Szene im Film, in der Norbert Poehlke am Strand zuerst das Kind erschießt und sich anschließend mit einem Kopfschuss selbst richtet, war ihr jetzt so gegenwärtig wie die Bilder des Motorradfahrers.
Lea Thomann massierte sich nervös die Stirn. Ich muss unbedingt etwas unternehmen, dachte sie.
Um sich zu beruhigen, griff sie nach einem Kugelschreiber und ihrem Notizbuch. Sie schrieb alles auf, was ihr zu dem Verschwinden des Mädchens einfiel, und kennzeichnete, was nicht unmittelbar mit dem Fall zu tun hatte, mit einem Fragezeichen am Rand. Nach dreißig Minuten legte sie den Stift beiseite und überflog ihre Notizen. Ihr war klar, dass es eine Vielzahl offener Fragen gab. Gleichzeitig war es sinnlos, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Gerne hätte sie sich auf der Dienststelle nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt. Bestimmt arbeitete die Kriminalpolizei bereits auf Hochtouren.
Am Morgen hatte sie noch die Meldung der Streife abgewartet, die in die Klinik fuhr, und mitbekommen, dass der Fall an die Kripo übergeben wurde. Anschließend war sie nach Hause gefahren und hatte gehofft, zur Ruhe zu kommen. Jetzt hielt sie es in ihrer Wohnung nicht mehr aus. Sie beschloss, joggen zu gehen und sich dabei völlig zu verausgaben. Das einzig wirksame Mittel, wenn sie eine innere Unruhe nicht mehr ertragen konnte. Einen Zustand, den Lea leider allzu gut kannte.
Das grelle Aufblitzen der Überwachungskamera an der Kreuzung Willi-Bleicher-/Bahnhofstraße riss Moritz Kepplinger aus seiner Gedankenwelt. Er hatte die Ampel schlichtweg übersehen. Zum Glück befand sich in diesem Augenblick kein Fahrzeug im Kreuzungsbereich. Ein alter Mann, der im Begriff war, mit seinem Rollator die Straße zu überqueren, gestikulierte zornig in seine Richtung. Moritz entschuldigte sich mit einer versöhnlichen Handbewegung. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass ihn der Fall überforderte und er dringend Unterstützung benötigte. Er verdrängte die Hilflosigkeit damit, sich einige Fragen zurechtzulegen, mit denen er den Vater des vermissten Kindes konfrontieren wollte. Entweder war er sein wichtigster Zeuge in diesem Fall, oder er hatte selbst mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun. Ihm war klar, dass er mit allem rechnen musste. Jedes Wort der Vernehmung konnte von Bedeutung sein. Kepplinger versuchte sich an das zu erinnern, was er während des Studiums über Vernehmungen gelernt hatte. Er dachte an den genialen Kriminalistikunterricht und den erfahrenen Dozenten, der von den Studenten liebevoll Dr. Watson genannt wurde. Im wirklichen Leben hieß er Hans Täschler und war als 54-Jähriger von einem Neonazi mit einem Messer so schwer verletzt worden, dass er ein halbes Jahr in ein künstliches Koma versetzt werden musste. Nach seiner Genesung sollte er in den Vorruhestand abgeschoben werden, aber Hans Täschler wehrte sich mit Händen und Füßen gegen diese Entscheidung. Er besorgte sich medizinische Gutachten, die ihm seine Dienstfähigkeit attestierten und versuchte, sich damit gegen die Entscheidung der Polizeiärzte durchzusetzen. Der Fall verursachte einen solchen Wirbel, dass sich am Ende der Landespolizeipräsident selbst um die Sache kümmerte. Hans Täschler wurde zum Gespräch nach Stuttgart gebeten und willigte schließlich in das Angebot ein, die Jahre bis zu seiner Pensionierung als Dozent für Kriminalistik an der Hochschule der Polizei zu arbeiten. Alle Studenten kannten diese Geschichte, und die bis zu vierhundert Erstsemester bemühten sich spätestens nach zwei Wochen darum, einen der begehrten Kursplätze bei ihm zu bekommen.
Jede Vorlesung war schlichtweg fesselnd. Spätestens nach zehn Minuten hatten alle Zuhörer das Gefühl, selbst am Tatort zu sein. Man atmete den Verwesungsgeruch der Opfer, konnte den Tathergang aus der Spurenlage nachvollziehen und fand aufgrund der Verletzungen des Getöteten heraus, dass der Täter Linkshänder sein musste. Für Moritz Kepplinger war Täschler das Vorbild eines Ermittlers schlechthin geworden. Polizeiliche Routinearbeiten stellten sich in der Beschreibung des Dozenten als hochinteressante Puzzleteile dar. An der Hochschule kursierten die wildesten Geschichten über Kriminalfälle, die Täschler in seiner ihm eigenen Art und Weise gelöst hatte. Wer ihn persönlich kannte, neigte dazu, unter Berücksichtigung einiger Übertreibungen, alles zu glauben. Am beeindruckendsten fand Kepplinger den Fall, bei dem Täschler das
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