Hochzeit im Herrenhaus
jedoch überraschte, war die Enttäuschung, die sie verspürte – denn jetzt hatte sie keinen Grund mehr, noch länger hierzubleiben. “Ah, Eliza!”, rief sie und wandte sich zu ihrer treuen Zofe, die ins Schlafzimmer kam. “Nun ist es an der Zeit, unsere Sachen zu packen.”
“Ja, Miss, heute Morgen müssten wir in die Stadt fahren.” Eliza stellte einen Krug mit heißem Wasser auf den Waschtisch. “Wie einer der Stallburschen mir versichert hat, sind die Straßen schneefrei oder zumindest passierbar.”
“Was für gute Neuigkeiten”, log Annis erstaunlich überzeugend. Niemals würde sie ihren unerwarteten Abschiedsschmerz zugeben, den sie selber nicht verstand.
“Soll ich nach einem Frühstückstablett läuten, Miss?”
“Heute möchte ich im Salon frühstücken, obwohl ich nicht hoffen darf, Seine Lordschaft dort anzutreffen. Wie man mir mitgeteilt hat, nimmt er die erste Mahlzeit des Tages allein ein. Also muss ich ihn später bitten, er möge uns eine Kutsche zur Verfügung stellen.”
“Fürchten Sie, das könnte er ablehnen?”
“Wäre mir diese Frage unmittelbar nach meiner Lektüre seines schroffen Briefs an Lady Pelham gestellt worden, hätte ich Ja gesagt. Aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert.” Geistesabwesend zupfte Annis an der Bettdecke und dachte über den Charakter des Viscounts nach. “Ich vermute, nur wenige enge Freunde kennen Lord Greythorpe wirklich gut. Trotzdem halte ich ihn nicht für den strengen, humorlosen Mann, als der er auf den ersten Blick erscheinen mag. Er ist sehr intelligent. Und ich nehme an, er handelt niemals ohne gründliche Überlegung. Außerdem habe ich den Eindruck gewonnen, dass es ein schwerer Fehler wäre, ihn zu unterschätzen. Wenn man ihm in die Quere kommt, muss man zweifellos mit harten Maßnahmen rechnen. Aber vor allem ist er ein echter Gentleman. Auf keinen Fall würde er einer Dame seine Hilfe verwehren. Und so müssen wir die Poststation wohl kaum zu Fuß aufsuchen.”
Wenn Annis das Wesen des Hausherrn auch richtig zu bewerten glaubte – sofern das nach so kurzer Bekanntschaft möglich war –, fand sie seine gerunzelte Stirn nicht erstaunlich, als sie sich eine Stunde später unangemeldet in die Bibliothek wagte. Immerhin legte er großen Wert auf seine Privatsphäre und pflegte den Großteil des Tages allein zu verbringen. Das verstand sie sehr gut. Niemals hätte sie sich erlaubt, unaufgefordert ins Allerheiligste einzudringen, wäre es nicht nötig gewesen.
“Verzeihen Sie die Störung, Sir”, begann sie und sank mutig in den Sessel vor dem Schreibtisch, nachdem der Viscount sich etwas verspätet erhoben und ihr zugenickt hatte. “Ich möchte das günstige Wetter zur Abreise nutzen, was sicher auch in Ihrem Interesse liegt. Und deshalb muss ich mit Ihnen sprechen.”
Schweigend setzte er sich wieder, legte den Brief beiseite, den er gelesen hatte, und befolgte wenigstens die Grundregeln höflichen Verhaltens, indem er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Aber seine Miene blieb abweisend.
“So ungern ich Sie auch um diesen Gefallen bitte, Sir …”, fügte Annis hinzu. “Würden Sie mir eine Kutsche leihen, damit ich mit meiner Zofe in die Stadt fahren kann? Natürlich möchte ich die Gastfreundschaft, die Ihre Schwester und Sie einer völlig fremden Person so großzügig gewähren, nicht überbeanspruchen.”
“Sie sind uns
nach wie vor
willkommen, Miss Milbank”, betonte er zu ihrer Verblüffung. “Und davon abgesehen – wäre Ihr Aufbruch nicht verfrüht? Sie sind hier, um einen Auftrag zu erledigen”, erinnerte er sie, als er ihre Verwirrung bemerkte. “Deute ich Ihre Absicht, Greythorpe Manor zu verlassen, richtig? Glauben Sie, Ihre Bemühungen wären erfolgreich gewesen, und ich hätte beschlossen, Lady Pelhams Wunsch zu erfüllen, der meine Halbschwester betrifft?”
Gegen ihren Willen bewunderte sie seinen Scharfsinn und seine unverblümten Worte. Gewiss, sie verhielt sich etwas anmaßend. Im Vertrauen auf seine Vernunft hatte sie tatsächlich erwartet, er würde den Vorschlag ihrer Patentante gutheißen, statt auf seine Rechte zu pochen.
“Offenbar habe ich zu viel vorausgesetzt, Sir”, gestand sie. “Falls es so ist, kann ich nichts mehr tun, denn es würde mir wohl kaum gelingen, Sie umzustimmen. Also würde es weder Ihnen noch mir nützen, wenn ich hierbliebe.”
“Da irren Sie sich, meine Liebe. Wenn Sie Ihren Aufenthalt in diesem Haus verlängern, würden Sie einem sehr nützlichen Zweck
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