Hochzeit im Herrenhaus
dienen.”
Entgeistert rang sie nach Luft. “Ich … ich verstehe nicht, Sir …”
Bevor er antwortete, stand er auf, trat ans Fenster und nahm die gleiche Pose ein wie bei dem ersten Gespräch mit Annis, das in diesem Raum stattgefunden hatte. Unleugbar bot er einen imposanten Anblick, kraftvoll gebaut, hochgewachsen, mit breiten Schultern. Trotzdem hatte er sie niemals eingeschüchtert, ganz im Gegenteil. Der Viscount strahlte eine ruhige Würde aus, die ihr seltsam tröstlich und vertraut erschien. Diese besondere Aura hatte sie jedes Mal gespürt, wenn ihre geliebte Mutter in ein Zimmer gekommen war.
“Gestatten Sie mir zunächst, die Angelegenheit zu erörtern, die meine Halbschwester angeht”, begann er langsam, als würde er jedes einzelne Wort sorgsam erwägen. “Ich kann nicht behaupten, die Situation würde mich beglücken. Ebenso wenig gefällt mir die Art und Weise, wie Lady Pelham die alberne Schwärmerei ihrer Nichte bekämpfen will. Natürlich zweifle ich nicht an ihrer Überzeugung, sie würde das Allerbeste für Helen tun. Und niemand kann den Charakter des Mädchens so gut beurteilen wie sie. Deshalb werde ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmischen.”
Erleichtert atmete Annis auf. “Diesen Entschluss werden Sie nicht bereuen, Sir.”
“Ich hoffe, das wird sich erweisen”, sagte er fast brüsk und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Forschend schaute er sie an. “Aber damit wir einander nicht missverstehen, möchte ich ganz offen mit Ihnen reden. Im Gegensatz zu Ihnen kenne ich Lady Pelham kaum. Aber mir kam nichts zu Ohren, was zu ihren Ungunsten sprechen würde. Seit vielen Jahren verwitwet, scheint sie einen untadeligen Ruf zu genießen. Andererseits wäre sie ein überirdisches Geschöpf, wenn sie keine Fehler hätte. Und so frage ich mich, ob sie einen längeren Besuch in meinem Haus nur ablehnt, weil sie im Interesse ihrer Nichte handeln will. Oder versucht sie ihren Einfluss auf Helen weiterhin auszuüben, ohne dass jemand anderer eingreift?”
Diese Bedenken verstand Annis und suchte sie zu zerstreuen, so gut sie es vermochte. “Falls Sie herausfinden wollen, ob meiner Patentante Ihre Vormundschaft über Helen misshagt – während meines kurzen Aufenthalts in Bath hat sie nichts dergleichen erwähnt. Nach meiner Meinung begrüßt sie Ihr Interesse an Ihrer Halbschwester.”
Seine Augen verengten sich. “Weiß Helen, dass ich für sie verantwortlich bin?”
Da sie es sinnlos fand, die Wahrheit zu verheimlichen, schüttelte sie den Kopf. “Um ehrlich zu sein, Sir – ich war schockiert, als ich davon erfuhr. Und ich kann mir vorstellen, was Helen empfinden wird, wenn sie das hört. Aber seien Sie versichert, Lady Pelham hat ihr diese Tatsache nicht absichtlich verschwiegen. Sie nahm einfach nur an, Sie würden sich ebenso verhalten wie Ihr Vater. Also war die Frage der Vormundschaft kein Thema. Unter diesen neuen Umständen wird sie Helen selbstverständlich darüber informieren – und den richtigen Moment wählen.”
“Offensichtlich haben Sie die größte Hochachtung vor Ihrer Patentante, Miss Milbank.”
“O ja”, bestätigte Annis. “Sie ist warmherzig und sehr vernünftig. Außerdem steht sie immer zu ihrem Wort, und so wird sie Helen Ende März hierherbringen, damit Sie das Mädchen vor der Party kennenlernen können.”
Als er sie schweigend musterte, vermutete sie, das Gespräch sei beendet, und wollte aufstehen. Aber der Viscount hielt sie mit einer knappen Geste zurück. “Um dem Beispiel Ihrer Aufrichtigkeit zu folgen, werde ich genauso freimütig sprechen, Miss Milbank. Ich möchte Helen aus mehreren Gründen zu einem längeren Besuch in Greythorpe Manor veranlassen – nicht zuletzt, weil Sarah gewisse Vorteile aus einer näheren Bekanntschaft ziehen würde.” Um Annis’ fragenden Blick zu beantworten, fügte er hinzu: “Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist meine ältere Schwester ein verschlossener, in sich gekehrter Mensch. Ich dachte, für beide wäre es wünschenswert, wenn sie vor der Ankunft der restlichen Familienmitglieder genug Zeit fänden, um Freundschaft zu schließen.” Seufzend studierte er den massiven Siegelring an seiner rechten Hand. “In diesen letzten Wochen führte die Anwesenheit unserer Cousine nicht zu dem Erfolg, den ich erhofft hatte. Was Ihnen wohl kaum entgangen ist – Sarah und Louise haben nur wenig gemein, obwohl sie sich mögen. Aber meine Schwester findet es ziemlich anstrengend, der jungen Dame die
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