Hochzeit im Herrenhaus
Nur eine einzige ließ er brennen, die ihm den Weg nach oben zu seinem Schlafzimmer weisen sollte. Mit leisen Schritten durchquerte er die Halle. Es war nicht ungewöhnlich, dass er als letztes Haushaltsmitglied zu Bett ging. Aber er fand es höchst ungewöhnlich, eine Tür knarren zu hören und einen Luftzug zu spüren, der die Kerzenflamme löschte.
Offenbar war außer ihm noch jemand um diese späte Stunde auf den Beinen – wahrscheinlich der pflichtbewusste Dunster, der sich vergewissern wollte, ob alle Haustüren und Fenster geschlossen waren. Ein paar Sekunden lang blieb der Viscount am Fuß der Treppe stehen und lauschte. Kein Geräusch drang zu ihm. Plötzlich erwachte erneut jenes Unbehagen, das ihn seit Colonel Hasties Besuch immer wieder befiel, und er beschloss, nach dem Rechten zu sehen. Lautlos schlich er die Stufen hinauf.
Zu seiner Bestürzung sah er Annis’ Tür angelehnt. Mit einem kurzen Blick stellte er fest, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Und er erriet auch, warum sie es mitten in der Nacht verlassen hatte. Stets rücksichtsvoll, würde sie niemals nach einem Diener läuten, um die Bedürfnisse ihrer Hündin zu befriedigen, sondern sich selbst darum kümmern. Und da sie die schlafenden Familienmitglieder nicht stören wollte, würde sie nicht die Haupttreppe benutzen, sondern die Hintertreppe zum Stallhof hinabsteigen. Deshalb weiß sie natürlich nicht, dass ihr Verlobter noch wach ist, dachte er grimmig, und bis vor Kurzem in der Bibliothek saß. Nun, das wird sie bald merken … In Zukunft würde er diese nächtlichen Wanderungen unterbinden – zumindest, bis er sicher war, dass keine Gefahr von Charles Fanhope ausging.
Entschlossen eilte er die Dienstbotentreppe hinab. Bevor er die Verfolgung aufnahm, zündete er eine der Laternen an, die neben der Tür auf einem Tischchen bereitstanden.
In der Mitte des Hofs angekommen, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, denn plötzlich erklang jenes kindische, boshafte Gelächter, das er zu oft vernommen hatte, um nicht zu wissen, wer sich hinter dem geschlossenen Tor des größten Stalltrakts aufhielt. Und er ahnte in wachsendem Entsetzen, dass der unwillkommene Gast nicht allein war.
Auch Annis erkannte das meckernde Gelächter, und sie erinnerte sich sofort, wo sie es zuletzt gehört hatte. Warum war ihr die Identität des Schurken nicht schon viel früher klar geworden? Immerhin hatte sie in seiner Gegenwart ihre Angst vor dunklen, geschlossenen Räumen erwähnt.
“Also waren
Sie
so liebenswürdig, mich damals im Eiskeller einzusperren”, beschuldigte sie ihn und stellte ihre Laterne auf den Boden.
Allmählich erholte sie sich von dem Schock, den Charles Fanhopes Anblick ihr im Stall versetzt hatte, und ihre Angst verflog. Aber sie ermahnte sich zur Vorsicht, denn sie sah ein verräterisches Glitzern in seinen Augen. Außerdem schwankte er ein wenig, und das verriet ihr zusätzlich, dass er nicht ganz nüchtern war. Soviel sie wusste, erlagen manche Gentlemen ihren niedrigen Instinkten, wenn sie zu viel Alkohol getrunken hatten. Deshalb fand sie es besser, Lord Fanhopes unberechenbaren Erben nicht zu erzürnen.
“Darf ich erfahren, womit ich Ihren Unmut erregt habe? Zuvor waren wir uns nur ein einziges Mal begegnet.” Natürlich kannte sie die Antwort. Aber sie hoffte, wenn sie ihn in ein Gespräch verwickelte, würde er ihr erzählen, warum er sich im Stall des Viscounts versteckte.
“Sie haben meine Pläne für die Zukunft meiner Schwester vereitelt, Miss Milbank.” Abgesehen von einer abstoßenden Grimasse, wirkte er zum Glück nicht bedrohlich. “Hätten Sie sich nicht eingemischt, wäre sie jetzt mit Greythorpe verlobt.”
Hastig senkte sie den Blick, um zu verbergen, was sie dachte. Allem Anschein nach hatte er noch nichts von Deverels Heiratsabsichten gehört. Und in ihrer gegenwärtigen Situation hielt sie es für klüger, ihm diese Neuigkeit zu verschweigen. Zweifellos war es vorteilhafter, wenn er sich einbildete, seine Schwester könnte immer noch mit dem Viscount vor den Traualtar treten. Zudem fand sie es ratsam, ihn nicht über die Stellung zu informieren, die Jack Fletcher am vergangenen Tag angetreten hatte.
Nun, es würde sicher nicht schaden, wenn sie ihm eine Gelegenheit dazu verschaffte, seinen Gefühlen Luft zu machen. Danach würde er sich ja vielleicht beruhigt entfernen und somit keine weiteren Unannehmlichkeiten heraufbeschwören.
“Leider verstehe ich nicht, was Sie meinen, Mr.
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