Hochzeit im Herrenhaus
Viscount sie zu seiner Braut erkoren hatte.
“O Rosie, wenn ich ihre Gesichter sehe … Warum kratzt du denn dauernd an der Tür? Willst du schon wieder hinaus?”
Offenbar hatte Annis richtig geraten, denn der Spaniel winselte erbärmlich. Und so stieg sie widerstrebend aus dem Bett.
“Was für ein lästiges Tier du bist!”, schimpfte sie. Um diese Stunde würde sie sich selbst um Rosies Bedürfnisse kümmern müssen, denn das Personal hatte sich bereits zurückgezogen. “Erst vor einer Stunde war jemand mit dir draußen. Warum hast du die Gelegenheit nicht genutzt?”
Statt einer Antwort wedelte die Hündin erwartungsvoll mit dem Schwanz, während Annis in den Morgenmantel und die Pantoffeln schlüpfte. Da sie nicht wusste, wie lange sie im Freien bleiben musste, legte sie auch noch ein Cape um ihre Schultern. Dann nahm sie die Kerze von ihrem Nachttisch und stieg mit dem Spaniel die Hintertreppe hinab, die normalerweise nur von den Dienstboten benutzt wurde. Auf diesem Weg würde sie am schnellsten in den Stallhof gelangen.
Nachdem Rosie im Dunkeln verschwunden war, stand Annis auf der Schwelle der Hintertür und wartete mehrere Minuten lang. Hatte die Hündin die Witterung einer Ratte aufgenommen, die irgendwo in den schwarzen Schatten lauerte?
Schließlich nahm Annis eine Laterne von einem Tischchen neben der Tür, stellte die Kerze ab und ging auf die Suche. Nichts rührte sich, als sie leise nach Rosie rief und pfiff. Beinahe hatte sie den Hof zur Hälfte durchquert, da hörte sie ein dumpfes Geräusch, gefolgt von schrillem Gekläff, das aus der Richtung des größten Stalltrakts drang. Unter normalen Umständen hätte sie sich nicht weitergewagt – gewiss nicht, in dieser unheimlichen Finsternis.
Aber es sah Rosie gar nicht ähnlich, einen Ruf ihrer Herrin zu missachten. Noch bevor Annis das Stalltor erreichte, ahnte sie, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Und sobald sie das flackernde Licht unter dem Tor und die beiden massiven, zurückgeschobenen Riegel sah, glaubte sie ihren Verdacht bestätigt. Dahinter würde sich nicht nur ein vierbeiniges, sondern auch ein zweibeiniges Wesen aufhalten.
Vor lauter Sorge um den Spaniel ignorierte sie eine warnende innere Stimme und betrat den Stall. Verwirrt rang sie nach Luft.
“Was zum Teufel machen Sie hier?”
14. KAPITEL
D er Viscount blickte von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas auf und wandte sich zu der schönen Uhr aus vergoldeter Bronze, die auf dem Kaminsims in der Bibliothek stand. Schon vor einer ganzen Weile hatten sich die Damen zurückgezogen, ebenso wie die Dienstboten.
Auch für ihn war es an der Zeit, sein Schlafzimmer aufzusuchen. Aber er fand erst an diesem späten Abend Muße, sich entspannt zurückzulehnen und jener gütigen Vorsehung zu danken, die an einem bitterkalten Februartag die Liebe seines Lebens zu ihm gesandt hatte.
Wie war es nur möglich, dass ein Mann und eine Frau aus verschiedenen Welten eine so vollkommene Harmonie bildeten? Schon kurz nach der ersten Begegnung hatte er in Annis die zweite Hälfte seines Wesens erkannt. Er würde zwar nicht so weit gehen und behaupten, sie wisse stets, was er dachte und fühlte. Und manchmal verwirrte ihn ihr Verhalten. Doch das kam nur selten vor. Meistens sah er voraus, wie sie sich in gewissen Situationen benehmen würde. An so vielen Abenden während der letzten Wochen hatten sie einander im Salon angeschaut, um ein geheimes Amüsement zu teilen, wenn Sarah in redselige Stimmung geraten oder Louise allzu albern gewesen war.
Annis hatte ihn von den bösen Erinnerungen an seine lieblose Kindheit befreit – an eine Zeit, in der es verboten war, sich einfach nur zu freuen oder Emotionen zu zeigen.
Lächelnd hob er sein Glas und prostete dem Fantasiebild der künftigen Viscountess Greythorpe zu. Wie ungeduldig er die Hochzeit herbeisehnte … Die hinterlistigen Strategien, die er angewandt hatte, um Annis in seinem Haus festzuhalten, waren erfolgreich gewesen. Doch er konnte nicht bestreiten, dass ihre fortgesetzte Anwesenheit unter seinem Dach seine Selbstkontrolle auf eine harte Probe gestellt hatte, von seinen ehrbaren Absichten ganz zu schweigen. Zum Glück würde Lady Pelham am nächsten Tag eintreffen. Denn seine Braut brauchte vermutlich nicht nur den Schutz ihrer Zofe mit den untrüglichen Argusaugen, bevor sie in den heiligen Ehestand treten würde.
In einem einzigen Zug leerte er seinen Brandyschwenker, dann erhob er sich und löschte die Kerzen.
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