Hochzeit in St. George (German Edition)
zu überzeugen, sie ohne Anstandsdame nach London reisen zu lassen. Aber Hetty wäre keine echte Willowby gewesen, wenn sie sich ernstlich Gedanken über dieses Problem gemacht hätte. Zu gegebener Zeit würde sich auch dafür eine passende Lösung finden. Um ein zügiges Schriftbild bemüht, begann sie zu schreiben. Zum Glück konnte sie den Brief kurz halten, denn George war kein Freund langer Worte. Verehrte Tante, verehrter Onkel!, schrieb sie und verglich ihre Schrift mit der ihres Bruders. War durchaus annehmbar. Meine Gattin und ich sind übereingekommen, daß wir, Hetty stockte, sollte sie »liebe Schwester« schreiben, oder war das zu auffallend? Sie entschied, es bei Schwester Hetty zu belassen, in die Gesellschaft einführen sollten. Euer Einverständnis vorausgesetzt, ersuche ich Euch, ihr Eure Kutsche zu leihen, und sie nach London zu schicken. Für die Kosten des Debüts komme selbstverständlich ich auf. Euer Neffe George. Sie hatte das Schreiben beendet und wollte eben Sand auf das Blatt streuen, als sie Schritte vernahm, die sich ohne Zweifel ihrer Tür näherten. Rasch klappte sie ihren Sekretär zu.
Keine Minute zu früh, denn ihre Tante betrat das Zimmer. In ihrer Rechten schwenkte sie einen zartgelben Briefbogen, in ihrer Linken die Augengläser, die sie seit einiger Zeit zum Lesen benötigte.
»Stell dir vor, mein Kind, wir bekommen Besuch!« Sie stutzte und warf einen erstaunten Blick auf ihre Nichte: »Warum um alles in der Welt sitzt du hier, regungslos vor deinem Sekretär? Warst du eben dabei, einen Brief zu schreiben?«
»Nein, nein!« beeilte sich Hetty zu versichern, »ich wollte nur, ich war dabei…« Es fiel ihr nichts Passendes ein, was sie getan haben könnte. »Wer kommt zu Besuch?« fragte sie statt dessen. Ihr Interesse war nicht wirklich echt. Onkel und Tante bekamen selten Besuch. Und wenn, dann waren es alte Leute wie sie selbst, die Erholung an der See suchten und sich dazu einige Tage oder Wochen bei ihnen einquartierten. Doch nun mußte sie Neugierde vortäuschen, um ihre Tante abzulenken. Das gelang zum Glück.
»Catharine de la Falaise«, erwiderte Tante Mable, nun zu Hettys wirklicher Überraschung. »Du kannst dich doch noch an sie erinnern, nicht wahr? Wir haben sie vor zwei Jahren in Frankreich besucht.«
Hetty war aufgesprungen. »Aber natürlich erinnere ich mich an Catharine!« rief sie aus. »Wir haben eine so schöne Zeit in La Falaise verbracht! Wann kommt sie? Wie lange wird sie bleiben? Wird ihr Gatte, der Marquis, sie begleiten?«
»Aber Henrietta!« rief ihre Tante aus. Sie nannte Hetty nur dann bei ihrem vollen Namen, wenn sie ernsthaft entrüstet war. »Der Marquis de la Falaise ist vor einem Jahr gestorben. Wir haben dir doch davon erzählt. Wie kannst du das vergessen haben?«
»Oh, jetzt erinnere ich mich. Wie froh muß Catharine sein, daß er tot ist!«
»Henrietta!« rief Mylady erneut.
»Aber war er denn nicht ein unangenehmer Mensch und noch dazu um so vieles älter als sie?« wandte Hetty ein.
»Über Tote spricht man nur Gutes«, mahnte Mylady, obwohl sie im stillen ihrer Nichte recht geben mußte. »Nun, da das Trauerjahr sich dem Ende zuneigt, hat Catharine beschlossen, in ihre Heimat zurückzukehren. Der Brief hat geraume Zeit gebraucht, bis er uns erreichte. In der Zwischenzeit hat Catharine sicher bereits die Reise nach Calais angetreten. Sie wird in Kürze das Schiff besteigen, und wir können sie in den nächsten Tagen erwarten. Catharine ist die Nichte meines Mannes, wie du weißt. Die Tochter seiner Zwillingsschwester Samantha, mit der ihn ein sehr inniges Verhältnis verband, bevor sie leider allzu früh verstarb. Dein Onkel ist einer ihrer nächsten Verwandten. Daher wird sie zu uns kommen, bis sie sich entschieden hat, wo sie sich niederlassen wird.«
»Aber sie hat doch einen Bruder«, fiel Hetty ein.
»Sprich in meiner Gegenwart nicht von Milwoke!« befahl die Tante und griff mit der Hand an ihr angeblich so schwaches Herz. »Ein unmöglicher Mensch. Wie übel er seiner Schwester mitgespielt hat. Ich will gar nicht daran denken. Ich werde sofort Bescheid geben, daß das Rosenzimmer vorbereitet wird. Du kannst dich in der Zwischenzeit umziehen. Wir essen in einer Stunde.« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ließ ihre Nichte mit klopfendem Herzen zurück.
»Geschafft! Ich habe es geschafft!« rief diese aus und tanzte in freudiger Erregung, sich ständig um die eigene Achse drehend, durch den ganzen Raum.
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