Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück: Roman (German Edition)
Schmuckstück und zog es langsam und mit zitternden Fingern heraus.
»Bitte lass mich einen Moment allein!«, sagte sie, und das war keine Bitte.
Meine Mutter verlor nur selten die Fassung, eigentlich nie, doch jetzt war so ein Moment. Auch wenn mir unendlich viele Fragen auf der Zunge und vor allem auf dem Herzen lagen, erhob ich mich und ging hinaus in den Garten. Fanny folgte mir. Ich wusste, was meine Mutter jetzt lesen würde. Ich hätte den Brief auswendig aufsagen können. Die Worte, die darin standen, hatten sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt:
Ich habe Mist gebaut, Minni, und wahrscheinlich bist du ziemlich wütend auf mich.
Als du mir erzählt hast, dass du schwanger bist, fühlte sich das an, als ob du mir mein Leben und meine Freiheit wegnehmen wolltest. Deswegen bin ich weg. Ich wollte reisen, die Welt ansehen, mich nicht an die Kette legen lassen. Wie absurd und dumm von mir! Jetzt sitze ich hier, gefangen in meiner Freiheit, und wünsche mir nur eines: Bei dir zu sein! Du bist meine Freiheit und jetzt mehr noch mein Leben, als ich es mir hätte vorstellen können. Du trägst mein Kind in dir. Unsere gemeinsame Ewigkeit.
Ich habe Angst. Eine verdammte Angst, dass ich es nicht schaffe. Dass ich nie mehr in deinen wundervollen Augen ertrinken kann. Und ich nie das erste Lächeln meiner Tochter oder meines Sohnes erleben werde.
Minni, du wirst eine phantastische Mutter sein. Erzähl unserem Kind von mir, und dass ich es schon jetzt so sehr liebe, dass mein Herz dabei brennt. Und erzähle ihm von unserer Liebe!
Ich hoffe, dass du diesen Brief nie lesen musst, denn wenn ich es schaffe, zu dir zu kommen, werde ich dir immer zeigen, wie sehr ich dich liebe.
Dein Wolfgang
Und dann als Zusatz in einer total krakeligen Schrift:
Ich schaffe es nicht, Minni. Schenk unserem Kind die Kette und meine Liebe. Mein einziges Erbe … Love you!
Es war die längste halbe Stunde, die ich je in meinem Leben gewartet hatte, bis sie mich wieder hinein rief. Der Brief lag geöffnet auf dem Tisch. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Sie hatte geweint, und es war, als ob eine andere Frau im Raum wäre. Noch nie hatte ich diesen Blick in ihren Augen gesehen. Noch nicht einmal damals, als mein Vater, … nein, als Lorenz gestorben war, der Mann, den ich für meinen Vater gehalten hatte. Und der es auch immer für mich gewesen war und sein würde.
Mutter stand wie ein Häufchen Elend da und verschränkte die Hände so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Sie würde mir jetzt noch nichts sagen können. Ich spürte es. Sie war zu erschüttert. Aber sie konnte etwas anderes tun.
»Zeig mir ein Foto«, bat ich sie leise. Sie nickte und ging aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später kam sie zurück. Sie setzte sich neben mich und reichte mir ein Bild, das schon ziemlich zerdrückt war. Es sah fast so aus, als ob sie es zerknüllt und danach wieder glattgestrichen hatte. Ich nahm das Foto mit zitternden Fingern und betrachtete zum ersten Mal das Gesicht meines Vaters.
Ein gut aussehender junger Mann mit längeren hellbraunen Haaren und braunen Augen lächelte mir entgegen. Also hatte ich diese dunkle Farbe nicht nur von meiner Mutter geerbt, wie ich bisher immer gedacht hatte. Sein Gesicht war markant und hatte fast ein wenig arrogant wirkende Züge – und trotzdem vermeinte ich eine große Sensibilität darin zu entdecken.
»Es war sein zwanzigster Geburtstag, kurz vor dem Abi.« Die Stimme meiner Mutter war brüchig.
Ich legte einen Arm um sie und bemerkte erst jetzt, wie schmal sie in den letzten Wochen geworden war. Und schlagartig ging mir durch den Kopf, dass das mit dem Erbe meiner Oma und meinem Vater zu tun hatte. Oder besser gesagt, mit meinen beiden Vätern. Wahrscheinlich war mit dem Erbe bei ihr eine alte Wunde wieder aufgebrochen.
»Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber bisher war ich immer davon ausgegangen, dass Wolfgang noch irgendwo auf dieser Welt lebt.«
»Dass er noch lebt?«, fragte ich ungläubig.
Sie nickte. Und dann setzten wir uns, und sie erzählte mir ihre Geschichte.
»Wir hatten uns ein halbes Jahr vor dem Abi bei der Geburtstagsfeier eines Freundes kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, wie man so schön sagt. Wolfgang lebte noch bei seinen Eltern in Passau. Zumindest mehr oder weniger. Die meiste Zeit war er irgendwo bei seinen Freunden. Trotzdem war er sehr ehrgeizig und hatte sich gründlich auf das Abi vorbereitet. Weißt du,
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