Hoehenfieber
Nur dass sie sich gerade selbst mit Anlauf hinauskatapultierte.
„Kneifen Sie mich, Sadia.“
„Bitte? Warum?“
„Damit ich glaube, was ich hier tue.“ Alessa atmete geräuschvoll aus. „Keine Angst. Was ich einmal zugesagt habe, halte ich – egal, wie sehr meine inneren Dämonen an meinem Entschluss rütteln.“
Majid drückte kurz Sadias Hand. „Sie hätten das viel eher tun sollen, Sayeeda Sadia.“
„Majid“, sagte Sadia.
Er nickte ihr zu. „Man sieht sich im Leben immer zweimal, Sayeeda Sadia.“ Er betrachtete Alessa eindringlich. „Beeilen Sie sich.“ Dann wandte er sich ab und ging zielstrebig auf das große Tor zu.
Alessa startete den Wagen und zog den Hebel der Automatik nach hinten. Ohne Licht, wie Majid es angeordnet hatte, rollten sie auf die Ausfahrt zu.
„Wo lang?“
„Rechts.“
Majid hatte einen Laufschritt eingenommen und eskortierte sie zum Tor. Zwei Wagenlängen entfernt stoppte Alessa und sie beobachteten, wie Majid am Pfosten die Elektronik betätigte und die Flügel wie von Geisterhand bedient aufschwangen. Auf Majids Wink hin fuhr Alessa los, kaum dass die Tore weit genug auseinandergefahren waren, sodass sie passieren konnten. Der Wachschutz musste zurzeit an einer anderen Stelle herumfahren, doch selbst wenn sie gesehen hätten, wie ein Wagen das Gelände verließ, hätte es kein Problem dargestellt. Raus durften Fahrzeuge, nur niemand ohne Kontrolle hinein.
Sadia drehte sich auf dem Sitz nach hinten und versuchte, Majid auszumachen, doch die Dunkelheit verschluckte ihn. Der Kloß in ihrem Hals wollte sich zu Beton verfestigen.
„Schnallen Sie sich besser an, Sadia.“
Auch Alessa hatte den Gurt angelegt. Noch immer fuhren sie nicht viel schneller als Schrittgeschwindigkeit, doch als nach einer halben Minute alles ruhig blieb, schaltete Alessa die Scheinwerfer ein und gab Gas.
Sadia hätte nie geglaubt, dass es so einfach sein würde, ihr Leben hinter sich zu lassen. Sie spürte keine Reue, nur Hoffnung. Vielleicht sogar für Fadi. Hatte der Junge ihr tatsächlich sein wahres Inneres offenbart? Hatte er es geschafft, nicht dem jahrelangen Einfluss seines Vaters zu erliegen? Sie wünschte es sich so sehr.
Jetzt musste sie herausfinden, wo sich Latifa befand.
Lichter reflektierten in der Frontscheibe und aufbrandende Furcht pumpte Adrenalin durch Sadias Adern.
„Wir nähern uns einer Umgehungsstraße“, sagte Alessa. „In welche Richtung muss ich fahren und wo wollen Sie überhaupt hin?“
„Zum Haus meiner Familie.“ Sadia knabberte an einem Knöchel auf ihrem Handrücken. Es war so lange her, dass sie den Palazzo verlassen hatte. Sie erkannte nichts, was ihr vertraut vorkam. Als sie ein Schild entdeckte, das in Richtung Stadtzentrum wies, deutete sie darauf. Said hatte ein Penthouse in der Nähe des Altstadtviertels Bastakiya bewohnt und Ziad lebte mit den anderen Brüdern und Schwestern samt deren Partnern und Kindern sowie ihrer alten Mutter in einem Komplex aus fünf Villen an der Küste. Doch wie sollte sie den Weg dorthin in der Nacht finden, wenn ihr nichts Bekanntes ins Auge fiel?
„Kennen Sie die Anschrift?“
„Ja.“
Alessa tippte auf dem Display des Bordcomputers herum. „Mal sehen, was das Navi sagt“, murmelte sie. „Wie lautet der Straßenname?“
„Fünf.“
„Mehr nicht?“
„Nein. Seit einiger Zeit wird ein System mit Straßennamen in Dubai eingeführt, aber es ist noch nicht überall umgesetzt.“
„Das Navi findet mehrere Straßen mit der Nummer Fünf.“
„Das Anwesen liegt in Jumeirah. Es ist ein riesiges Grundstück mit eigener Marina.“ Sadia war nur bis zu ihrem sechsten Lebensjahr dort aufgewachsen. Die Jahre danach bis zum Beginn ihres Studiums in Paris hatte sie in einem Internat verbracht.
„Okay. Folgen wir der netten Navi-Stimme.“
Sadia hing ihren Gedanken nach.
Warum informierte Ziad sie nicht? Hatte er einen Unfall, nachdem er Latifa vom Flughafen abgeholt hatte? Waren Latifa oder er ernsthaft verletzt?
Vielleicht wollte die Familie ihr erst Nachricht geben, wenn keine Lebensgefahr mehr bestand. Oder hatte Latifa gar nicht im Flugzeug gesessen? Was konnte nur passiert sein, dass Ziad ihr nicht sofort eine Nachricht zukommen ließ? Und wo steckte Fadi? Er hatte ihr versprochen, dass Latifa nichts zustoßen würde.
Schon wieder brannten Tränen in ihren Augen, weil sich ihre Überlegungen einfach im Kreis drehten. Sie fand keine beruhigende Erklärung.
„Wir sind da“, sagte Alessa. „Jetzt
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