Hoehenfieber
Reichtum der Welt, eine Seele. Dieses Mädchen besaß ein Herz!
„Also, gehen wir“, sagte Alessa und löste sich sanft aus Sadias Umarmung. „Ich ziehe mich rasch an.“
Sadia nickte nur. Ihr saß ein Kloß im Hals, der ihr die Sprache raubte.
Entschlossen übernahm Alessa die Führung. Sie öffnete die Tür und sah auf den Flur hinaus. Samtig weiches Nachtlicht aus indirekter Beleuchtung schälte die Wände aus der Dunkelheit. Es würde keine Nische geben, in der sie sich verstecken konnten, sollte ihnen jemand begegnen. Sadia atmete tief durch und trat hinter Alessa aus der Suite. Leise zog sie die Tür zu.
Alessa griff nach ihrer Hand. Auf dem Weg zur breiten Treppe hinab in die Halle wurden Sadias Schritte immer schneller, trieben auch die junge Frau zu unvernünftiger Eile an. Alessa hielt sie zurück. Sie presste einen Finger an die Lippen, deutete auf ihre und Sadias Füße und legte dann ihre Hand hinters Ohr. Wie dumm von Sadia. Je schneller sie liefen, desto größer war die Gefahr, dass sie Geräusche verursachten. Sie nickte und zwang sich, langsamer zu gehen.
Mittlerweile hatten sie den Treppenabsatz erreicht. Auch in der Halle unter ihnen brannten Nachtlichter. Der geschwungene Lauf der Stufen wollte einfach kein Ende nehmen. Sadia umklammerte bei jedem Schritt den Handlauf, um bloß nicht vor Aufregung zu stolpern. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wenn sie es erst hinaus in die Nacht geschafft hatten, würde sie sich besser fühlen. Noch aus den ersten Monaten ihrer Ehe wusste sie, dass ein Wachschutz um das Gelände patrouillierte, daran würde sich bis heute kaum etwas geändert haben, aber solange sie sich noch innerhalb der hohen Mauern des Anwesens befanden, würden die Sicherheitskräfte sie nicht entdecken.
Fast glaubte Sadia es nicht, als sie es tatsächlich bewältigt hatten.
Am Stamm einer frisch angepflanzten Palme blieben sie stehen und sahen sich um. Das Eingangsportal war von außen nicht beleuchtet, aber im Mondlicht noch deutlich zu erkennen. Wenn jemand aus den Fenstern sah, würde er sie entdecken, sobald sie die Richtung des Angestelltendorfes einschlugen. Und zwar für eine geraume Weile, denn der Weg dorthin verschwand erst nach schätzungsweise dreihundert Metern hinter einem sanften Hügel.
Sadias Mut ging schon wieder zur Neige. Schloss sie die eine Gefahr aus, grub ihr Kopf gleich eine weitere aus einem wirren Knäuel von Gedanken.
„Wohin?“, fragte Alessa. Sie war von dem kurzen Spurt bis zur Palme nicht im Geringsten aus der Puste, während Sadia bereits Stiche in der Seite spürte.
Sie streckte einen Arm aus. „Dort hinten beginnt der Weg. Erkennst du die Statue rechts?“
„Ja. Kommen Sie, Sadia.“ Alessa lief erneut voran und zog sie mit.
Die Nähe vermittelte etwas Tröstliches und beinahe glaubte Sadia, ein winziger Teil von Alessas Kraft und Mut würde in sie überfließen. Es reichte aus, um ihr die Schmerzen zu nehmen, zumindest, um sie zu verdrängen.
Endlich verschwand die Silhouette des Palazzos hinter dem Hügel. Ein Drittel des Weges hatten sie zurückgelegt. Erleichterung breitete sich in Sadia aus, doch als sich die Häuser vor dem grauschwarzen Nachthimmel abzeichneten und sie erkannte, dass aus einigen Fenstern noch Licht auf den Weg fiel, umklammerte Furcht erneut ihr Innerstes und trieb ihr den Atem aus den Lungen.
„Warte“, sagte sie und keuchte leise.
Alessa blieb sofort stehen. „Geht es Ihnen nicht gut, Sadia?“
„Doch. Es ist alles okay. Ich … nur …“ Sie fand nicht die richtigen Worte.
„Sie wissen nicht, wo Sie Majid finden können, nicht wahr?“
Alessa besaß nicht nur ein Herz, sondern auch einen messerscharfen Verstand und Kombinationsgabe. Sie musste es in der Suite von ihrem Gesichtsausdruck und ihren Gesten abgelesen haben. Sadia schämte sich in Grund und Boden. Und wo war ihr schauspielerisches Talent geblieben? Diese Ehe hatte sie um alles beraubt, was sie jemals besessen hatte. Sogar um ihre Persönlichkeit.
„Und Majid ist der Einzige, dem Sie trauen können?“
„Ich habe nie Kontakt zu den anderen Bediensteten gehabt, also … ich meine … ich kenne niemanden.“ Im Harem hielten sich nur Eunuchen auf. Arbeiten wie Wäsche waschen, kochen und Kindererziehung organisierten die Frauen selbstständig. Wer glaubte, innerhalb der Gemeinschaft flögen gebratene Tauben durch die Luft, der irrte gewaltig. Nur den Ehefrauen des Scheichs standen gewisse Privilegien zu und ihr als seiner ersten
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