Höhenrausch (German Edition)

viel:
    Erstens: Was kann ich gegen die miserable Arbeitsmoral meines Bindegewebes tun?
    Zweitens: Was hat er sich wohl dabei gedacht?
    Zu neunundneunzig Prozent ist die zutreffende Antwort in beiden Fällen: Nix! Ich habe meine Oberschenkel mit ätzenden, rechtsdrehenden Fruchtsäuren bearbeitet, sie mit Zupfmassagen malträtiert, bis ich blaue Flecken bekam, und beim Joggen sehr unvorteilhafte Thermowäsche getragen, die die Durchblutung bis in die tieferen Hautschichten hinein anregen sollte: alles mit dem eigentlich vorhersehbaren Nulleffekt.
    Und ich habe Stunden verbracht, um die verborgene Bedeutung einer SMS zu entschlüsseln. Selbstverständlich auch solcher SMS, die gar nicht erst gekommen waren. Ich mag mir überhaupt nicht ausrechnen, wie viel Zeit ich verschwendet habe mit der Interpretation von Aussagen wie «Komme später», «Passt es dir auch morgen?» oder «Ich würde dich gerne wieder sehen».
    Meine Freundinnen habe ich zu Diskussionsrunden einbestellt, wo es um Schicksalsfragen ging wie: Nach welcher Zeit soll ich seine SMS beantworten? Soll ich rangehen, wenn er jetzt anruft, oder ihn lieber noch zwei Tage zappeln lassen? Wenn ich bis morgen nichts von ihm höre: Wofür ist das ein Zeichen? Oder, ebenso kontrovers diskutierbar: Wenn er mich morgen anruft: Wofür ist das ein Zeichen?
    Männer zappeln in den seltensten Fällen, wenn man sie zappeln lassen will. Das ist betrüblich. Denn während du darauf wartest, dass er anruft, damit du endlich nicht drangehen kannst, macht er Karriere und Krafttraining – oder eine neue Bekanntschaft.
    Die SMS von Männern zu interpretieren ist in etwa so sinnvoll, wie die tiefere Bedeutung von Stoppschildern entschlüsseln zu wollen. Ja meine Güte, wäre es denn möglich, dass die Herren genau das geschrieben haben, was sie sagen wollten?
    Ich erinnere mich an zahllose große Pausen in der Raucherecke des Schulhofs, in denen ich meine drei engsten Freundinnen fragte: «Stephan sagt, er hat morgen keine Zeit. Was glaubt ihr, hat das zu bedeuten?»
    Heute halte ich es für absolut möglich, dass Stephan keine Zeit hatte.
     
    Dass Frauen sich zu viele Gedanken machen, ist allen Frauen bekannt. Aber sie hören trotzdem nicht damit auf. Es gibt jedoch eine Situation – und ich befinde mich gerade und gerne in ihr –, da lohnt sich das Grübeln und das Interpretieren: am Morgen danach.
    Andreas hatte mir in einer relativ schonungslosen Mail geschrieben, was Männer denken, wenn sie neben einer Frau aufwachen, mit der sie die erste und eventuell auch letzte Nacht verbracht haben.
     

Von: Andreas Szabo
Betreff: Re: Morgengrauen
Datum: 22. Oktober 00   :   57   :   15 MESZ
An: [email protected]
    Liebe Linda,
    Morgengrauen kann für Männer das Grauen sein. Wenn wir genug getrunken haben und eine Frau einigermaßen sexy ist, haben wir gerne Sex, relativ egal, mit wem. Frauen dagegen haben in der Regel nur Sex mit Männern, in die sie sich vielleicht auch verlieben könnten. Deshalb erleben sie beim Aufwachen auch keine bösen Überraschungen. Ich glaube, Frauen suchen sich im Dunkeln nur solche Männer aus, die ihnen auch im Hellen gefallen würden.
    Männer wären morgens bei zwei Dritteln der Frauen heilfroh, hätten sie ihnen vor Tagesanbruch ein Taxi bestellt.
    Achte gut darauf, wie sich der Mann am Morgen danach verhält, denn hier bietet das männliche Verhalten wirklich mal gehörigen Interpretationsspielraum.
    Er wird dir natürlich nicht sagen, dass ihm deine Beine zu kurz sind. Oder dass du so schlabberig küsst, wie er es sich ekeliger nicht bei Kermit dem Frosch vorstellen kann. Er will dich damit aber nicht schonen, sondern sich Ärger ersparen.
    Er wird sagen, dass er schnell losmüsse und leider keine Zeit für ein gemeinsames Frühstück habe, dir aber den Starbucks gleich um die Ecke empfehle. Und er wird hoffen, dass du verstehst, was er damit meint: Danke, das war’s, und ruf mich bloß nicht an.
    Also: Traue keinem Mann, mit dem du gerade eine Nacht verbracht hast. Es sei denn, er sagt: «Willst du Kaffee oder lieber Tee?» Oder: «Ich möchte dich so schnell wie möglich wieder sehen!» Oder: «Willst du mich heiraten?»
     
    Viele Grüße
    Andreas
     
    So langsam gerate ich ein wenig in Panik. Noch fünfzehn Minuten, dann kommt die Müllabfuhr – und mit ihr der Moment der Wahrheit. Wird mich Johann Berger beim Aufwachen wohlwollend betrachten? Oder wird er Reue fühlen? Vielleicht sollte ich lieber gehen, um mir und auch ihm diese