Höhenrausch (German Edition)
Üblicherweise scheitere ich bereits am Falten eines Umzugskartons, und ich mag gar nicht daran denken, wie viel Lebenszeit ich schon vergebens in Selbstbaumöbel investiert habe.
«Du bist neu hier, oder?», schallte eine Stimme aus den Lautsprechern.
Ich zog automatisch den Kopf ein, aber es half nicht, ich war leider gemeint. Ohne hochzuschauen, nickte ich, und mir wurde unangenehm warm, obschon ich noch kein einziges Kilo gestemmt hatte.
«Okay, ich bin der Nico. Wie heißt du?»
«Linda», hauchte ich, mein rot anlaufendes Gesicht weiterhin Richtung Boden gerichtet. Würde doch eine Erdspalte mich zuvorkommend verschlucken! Schade, dass man in unseren gemäßigten Breitengraden nicht auf die Unterstützung von Naturkatastrophen bauen kann.
Ich hasse es, wenn ich rot werde, und noch mehr hasse ich es, wenn mir eine genervte «Body Pump»-Gruppe dabei zuschaut. Ich werde nämlich nicht auf diese anrührende, mädchenhafte Weise rot, wo sich die Wangen lieblich verfärben, alle entzückt sind und an eine Jane-Austen-Verfilmung mit schüchternen jungen Damen in weißen Kleidern denken.
Nein, mein komplettes Gesicht wird innerhalb von Millisekunden bluthochdruckrot, und ich sehe aus wie ein medizinischer Notfall.
«Komm doch bitte in die erste Reihe, Linda, dann kann ich deine Bewegungen besser kontrollieren.»
Mein neuer Platz hatte nicht nur den Nachteil, dass fast alle mich sehr gut sehen konnten. Erschwerend kam hinzu, dass ich mich in der Spiegelwand auf einmal selbst sehr gut sehen konnte – ein erbarmungswürdiger und demotivierender Anblick.
Ich wandte die Augen ab und sah mir den Trainer an, der mir ermutigend zulächelte. Natürlich war der Nico ein hinreißender Junge, dem anbetungswürdigen Matthew McConnaughey nicht unähnlich und damit jemand, dem man gerne unter wesentlich anderen Umständen begegnet wäre. Wer derart definierte Oberarmmuskeln hat, dachte ich, ist definitiv ein Abenteuer wert.
Nach ein paar Minuten fand ich, dass ich eigentlich ganz gut mitgehalten hatte. Peinlich war nur, dass Nico Sachen in sein Head Set rief wie: «Linda, du solltest weniger Gewichte nehmen, deine Pomuskeln sind nicht trainiert genug!», oder: «Linda, zieh die Hantel nur bis zur Nipple Line hoch!»
Nipple Line? Also bitte, was ist denn das für ein Ausdruck? Und als Orientierungshilfe doch auch gänzlich untauglich. Die Brustwarzenhöhe kann bei Frauen – ähnlich dem Haaransatz bei Männern – von Fall zu Fall doch sehr unterschiedlich ausfallen.
Nach der Stunde kam Nico zu mir.
«Fürs erste Mal hat das doch schon sehr gut geklappt. Wenn du Zeit hast, solltest du noch eine halbe Stunde auf den Cross Trainer gehen. Dann hast du morgen keinen Muskelkater.»
Ich wagte ein Lächeln. Was für ein hübscher Mann! Seit ich einen Geliebten hatte, erhielt mein Selbstbewusstsein gehörig Auftrieb, und ich nahm Männer mit anderen Augen wahr, nämlich als Wesen, bei denen es nicht automatisch ausgeschlossen ist, dass sie sich für mich interessieren, obwohl ich mich nicht für sie interessiere.
Die Kombination ist unschlagbar: erotische Ausstrahlung plus sexuelles Desinteresse. Damit kannst du jeden Mann haben. Du wirkst nun mal am besten, wenn du nicht wirken willst. Frisch Verliebte sind zum Verlieben. Das ist ungerecht. Aber es ist so.
Ich kletterte auf einen der Cross Trainer, stöpselte die Ohrhörer meines I-Pods ein und hielt nach Nico Ausschau. Ich kam mir außerordentlich muskulös vor und freute mich auf Songs mit motivierenden Rhythmen und eingängigen Texten mit positiver Grundstimmung. Solche Lieder singe ich auch gerne mit.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass man rechts und links von mir ebenfalls Ohrstöpsel trug, schmetterte ich fröhlich die Songs meiner Playlist «Karnevalslieder».
«Mir losse der Dom in Kölle
denn da jehört er hin!
Wat soll der denn woanders?
Dat hätt’ doch keenen Sinn!»
Erst als ich dreißig Minuten später vom Cross Trainer stieg, bemerkte ich, dass Nico einen Meter hinter mir trainierte – sehr zu meinem Bedauern ohne Kopfhörer.
Johanns Nadelstreifenjackett liegt auf dem Boden, meinen nachtblauen Spitzen-BH entdecke ich im Regal bei Andreas’ DVD-Sammlung. Er liegt auf «Vier Fäuste für ein Hallelujah».
Ich finde, wenn man bei jemandem wohnt, dann ist das fast so, als ob man zusammenwohnt. Ich kenne Andreas’ Geschmack und Eigenarten, ohne ihn jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Er liebt Western, animierte Filme wie «Ice Age»
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