und hat alles von Quentin Terrantino und Ang Lee. Er mahlt Kaffee selbst und hebt die silberroten Illy-Dosen auf. Mehr als zwanzig stehen in der Küche rum, alle leer. Warum?
«Man weiß nie, wofür man diese Dosen nochmal brauchen kann», hatte er mir geschrieben, und ich war dankbar für diesen entzückenden Hauch Irrationalität, der sich da auf einmal in seinem Charakter zeigte.
Ansonsten hatte ich nämlich den unheimlichen Eindruck gewonnen, dass Andreas immer alles richtig macht. Er lenkt sich von seinem Kummer durch Sport und Arbeit ab, nicht durch Sex und erhöhte Kalorienzufuhr. Er schickt keine hirnverbrannten SMS an seine Exfreundin und fängt kein Verhältnis mit einer verheirateten Frau an.
Kein Wunder, dass er mich ständig ermahnt und maßregelt. Er muss mich für moralisch schwächlich und emotional infantil halten – womit er, in Teilen, Recht hat.
Aber ehrlich gesagt, nur weil einer immer Recht hat, heißt das noch lange nicht, dass es auch stimmt, was er sagt. Und wer sich wie Andreas immer absolut korrekt verhält, ist auf gewisse Weise ja auch irgendwie asozial. Ich frage mich, wie es seine Freunde überhaupt aushalten mit dieser Mensch gewordenen Biotonne. Ich habe schon automatisch ein schlechtes Gewissen, wenn ich nur an Andreas denke. Dabei kenne ich ihn doch eigentlich gar nicht. Ein fragwürdiger Charakter wie ich macht ja immer irgendwas falsch, und es ist fast am schlimmsten, wenn mir dann einer wie Andreas jesushaft vergibt.
Das ist wie essen bei McDonald’s in Begleitung einer Ernährungsberaterin; wie ordentlich Gas geben, wenn der Fahrlehrer mit im Auto sitzt, oder wie sonnenbaden neben Germany’s next Topmodel.
Erst neulich hatte mir Andreas wieder eine hartherzige Mail geschrieben, in der er mehrfach an meinen Verstand appellierte, erneut darauf hinwies, dass mit Vernunft auch Weltkriege verhindert würden und dass man nicht zwingend mit jedem Mann schlafen müsse, der sich für einen interessiere. Ich sei durchaus in einem Alter, wo man anfangen könnte, seine Probleme zu lösen, statt sie zu verhätscheln wie eine Spätgebärende ihr Einzelkind.
Ferner stünde es mir ebenfalls gut zu Gesicht, konzentrierter und analytischer vorzugehen, bei nahezu allem, was ich tue. Es sei doch nicht einzusehen, warum ich meinen Verstand nur zu besonderen und seltenen Anlässen benutzen würde, so wie Silberbesteck oder einen empfindlichen Oldtimer. Ich würde ja wohl bei Stehempfängen auch nicht wahllos nach jedem Häppchen greifen, das an mir vorbeigereicht wird, oder daheim in mein eigenes Badewasser pinkeln.
Von: Linda Schumann
Betreff: Jesus lebt!
Datum: 03. Dezember 18 : 55 : 72 MESZ
An: A
[email protected] Lieber Andreas!
Du kannst einem ja wirklich ganz schön auf den Senkel gehen mit deinem ewigen Genörgel.
In mein eigenes Badewasser pinkle ich nicht mehr, obwohl ich zugeben muss, dass ich erst ziemlich spät damit aufgehört habe. Aber ich schnappe tatsächlich nach jedem Häppchen, das an mir vorbeikommt, und esse auch die Bienenstich-Probierstückchen, die bei Karstadt auf der Kuchentheke stehen. Und zwar alle!
Ich verfüge weder über eine natürliche Essbremse noch über eine natürliche Gefühlsbremse.
Du hingegen scheinst einen implantierten Tempomaten zu haben, der dich von jeglicher Emotionsübertretung abhält. Aber denk doch mal an den Straßenverkehr: Wenn du dich an jede Regel hältst, bist du ein kolossales Verkehrshindernis. Gut, man muss nicht gleich mit achtzig Sachen durch Fußgängerzonen brettern, aber bei Spätorange über die Kreuzung muss schon mal drin sein.
Mein lieber Andreas, wärst du eine Farbe, dann gebrochenes Weiß, wärst du eine Glühbirne, dann vierzig Watt matt, und wärst du ein Gemüse, dann eine halbfest kochende Kartoffel.
Ich weiß, du machst deine Fehler nie sehenden Auges und nie zweimal. Aber lass mich doch noch einmal wissend in mein Verderben stürzen.
Versprichst du mir, dass du mich dann trotzdem tröstest? Ich verspreche dir auch, dann zuzugeben, dass du von Anfang an Recht hattest.
Sei herzlich gegrüßt von deiner Linda (Sorte: viel zu weich kochend!)
Von: Andreas Szabo
Betreff: Re: Jesus lebt!
Datum: 4. Dezember 11 : 36 : 07 MESZ
An:
[email protected] Liebe Linda,
du bist emotional verfressen. Ich nicht. Ich würde keine Beziehung anfangen, von der ich weiß, dass sie zum Scheitern verurteilt ist.
Es müssten schon ziemlich viele Koordinaten stimmen, damit ich mich von meinem