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Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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meiner Niederlage ergötzen. Ich habe doch keine Ahnung, ob das Biest auch wirklich fliegt.«
    »Wetten, dass doch!«, knurrte Richard.
    Die Strahlen der steigenden Sonne pickten sich in der schattigen Wand des Albtraufs die ersten Bergnasen und Muschelkalkfelsen heraus. Hark nahm den Drachen mithilfe des Griffstücks am Rumpf auf seine Hand. Das fünf Kilo schwere Modell in halber Lebensgröße über den Kopf gehoben, marschierte er damit auf die Hahnweide, gefolgt von Gerrit mit der Fernsteuerung.
    Auch Bodo ging mit Hut, aber ohne Stock und Rucksack im Wanderschritt hinterher. Die Art, wie Hildegard ihm mit dem Blick folgte, ließ darauf schließen, dass er ihr gerade so ganz gut gefiel.
    »Du bleibst hier, Laura«, sagte Janette. Die Art, wie sie ihre Tochter gängelte, verriet, dass sie mit Hark nicht ganz so weit gediehen war. Mich schaute sie auch nur schräg an.
    Hark drehte sich und den Urzeitvogel in den kaum spürbaren Wind. Dann fehlte doch noch etwas, und er senkte den Vogel wieder. Gerrit legte die Funksteuerung im Rasen ab und kam herbeigelaufen. Cipión mit fliegenden Ohren hinterher. Gerrit rannte an uns vorbei zum Wagen seines Vaters, dessen Heckklappe offen stand, zog seinen Rucksack hervor und begann wild zu kramen. Dann hatte er sein altes Schweizer Messer mit Schraubenzieher gefunden und rannte wieder zurück, hinaus auf die Hahnweide. Cipión kam ebenfalls mit einer Beute, die ihm links und rechts aus dem Maul hing. Er schüttelte sie so leidenschaftlich, dass er sich verhedderte und auf die Schnauze purzelte. Eine gute Gelegenheit für mich, ihn einzufangen, ehe er erneut das freie Feld gewann, um den Männern mit ihrem kostbaren Ultraleichtplastikmodell vor die Füße zu wuseln. Cipión fand das lustig, knurrte, wich mir aus und schlug Haken, doch fiel er dabei Richard in die Hände, den er in den Wochen, die ich den Hund jetzt zu erziehen versuchte, mehr respektieren gelernt hatte als mich.
    »Aus!«, sagte Richard sanft, aber gebieterisch und fasste nach dem fasrigen Zeug in Cipións Maul. Nur ungern löste der Kleine die Kiefer und gab es her, während ich ihn schnell anleinte.
    Richard richtete sich auf. Er war auf einmal totenblass.
    In seiner Hand krümmte sich ein Seil, das etwa armlange Stück eines Kletterseils, zum Achterknoten mit Schlaufe geknüpft. Von beiden Enden, die unten aus dem Knoten herauskamen, war das eine verschweißt und das andere glatt durchgeschnitten, bis auf das letzte Kardeel. Es war gerissen und faserte. Und das Seil war schwarz.
    Mir flimmerte es vor den Augen. Mit Einern Schlag fügte sich zusammen, was ich als disparaten Kinderkram missachtet hatte. Lauras allererste Frage, als Janette und ich nach Julians Bergung von der Mondscheinhöhle kamen, ob die Leiche schon verfault gewesen sei. Gerrits Fragen, als wir zum Lippertshorn aufbrachen, um mit der Kamera in den Spalten zu suchen, was denn mit der Leiche geschehe und ob sich beweisen lasse, wer den Toten ermordet hatte. Das ausgiebige Spiel von Laura, Julian, Volker und Gerrit unterm Nussbaum auf der Wiese, bei dem sie sich auf alle erdenkliche Weise ermordet und auf unaussprechliche Art ihr Leben ausgehaucht hatten. Richards leichthin gemachte Erklärung, es sei ihre Art, die Geschehnisse zu verarbeiten, bei der ich nur daran ge dacht hatte, dass die Kinder spielten, was wir Erwachse ne miteinander berieten, wenn wir meinten, sie kriegten es nicht mit.
    »Gerrit war es«, entfuhr es mir, aber so wisprig, dass es selbst Richard nicht verstanden hätte, hätte er nicht denselben Gedanken gehabt. »Er hat das Seil durchgeschnitten, an dem Achim Haugk in der Höhle hing.«
    Dann hatte er Karabiner und Seilrest vom Sicherungsbolzen am Höhlenmund entfernt und in den Rucksack gesteckt, aufgehoben und vergessen. Wobei der Achterknoten ihn mehr interessiert haben mochte als der Karabiner. So musste es gewesen sein.
    »Weiß er, was er getan hat?«, flüsterte ich. »Wird er sich später erinnern und es begreifen? Mit aller Wucht! Oder wird es sich in den düsteren Schichten seines Unterbewusstseins als vage Angst festsetzen?«
    »Ich kann es dir nicht sagen, Lisa«, antwortete Richard tonlos.
    Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Gerrit mit dem Schweizer Messer, das er zum sechsten Geburtstag bekommen hatte, ein Seil ansäbelte, bis aufs letzte Kardeel. Eine für einen Sechsjährigen beachtliche feinmotorische Leistung. Auch das blaue Kletterseil hatte er fast durchtrennt. Wahrscheinlich hatte Gerrit

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