Höhlenangst
gewusst, dass seine Mutter beim Klettern mit dem Vater immer das blaue Seil nahm. Blau, die Lieblingsfarbe seiner Mutter, die ihn nicht mehr haben wollte, wie er sehr wohl gespürt hatte mit dem feinen Sinn der Kinder für alles, was aus den Fugen geriet.
Den Achim hatte Gerrit auch gekannt. Wohl nicht als Liebhaber seiner Mutter, aber als Bedrohung für seine Welt. Er hatte Achims Namen genannt, obgleich Richard und ich ihn nicht ausgesprochen hatten, als wir über seinem schaurigen Poesiealbum saßen, das, ehe Graf Huckebein sein segensreiches Werk tat und den Brief stahl, für Gerrit den Beweis enthalten hatte, dass seine Mutter mit Achim ausgemacht hatte, ihn an einen Ölscheich zu verkaufen.
Und als schon lange alles wieder gut war und einiger maßen im Lot, da war Achim erneut aufgetaucht. So gro ße Mühe sich Hark gegeben haben mochte, vor Gerrit zu verbergen, was der Frechling forderte, nämlich seinen Sohn, hatte Gerrit es mitbekommen, wie Kinder alles mitbekommen, was ihre Welt bedroht. Womöglich war Achim so forsch gewesen, sich dem Jungen selbst als künftigen Vater vorzustellen.
Was hatte Abele erzählt? Achim Haugk habe in der Gegend zu tun gehabt an jenem Freitag, als er für immer in der Höhle verschwand. Das Rabenhaus lag in dieser Gegend. Was auch immer Achim von Hark gewollt hatte, wahrscheinlich war, dass Hark ihn ausgelacht und rausgeworfen hatte. »Das hat doch alles keinen Wert, du Simpel! Gerrit ist mein Sohn. Ich hab’s schriftlich!«
Und draußen war Achim dann auf Gerrit gestoßen und hatte ihm erzählt, wie Onkels das so tun, dass er auf dem Weg zur Mondscheinhöhle sei. »Na, hast du nicht Lust mitzukommen? Ich zeige dir auch, wie das alles geht. Hark kann es ja nicht mehr. Der hat Schiss!«
Und Gerrit war umgedreht und ins Haus gelaufen, beschämt, verwirrt und zornig. Und dann hatte er seinen Rucksack genommen und sein Fahrrad bestiegen und war, ohne dass der Vater es mitkriegen durfte, zum Lippertshorn gefahren und hatte sich ins Gebüsch gelegt und zugeschaut, wie dieser Mann, der ihm den Vater wegnehmen wollte, im Höhlenmund verschwand. Er hatte sich herangerobbt und das Seil durchgeschnitten. Viele Seile hatte er schon auf diese Weise angeschnitten, immer bis aufs letzte Kardeel, damit sie nicht gleich auseinander fielen und alle sahen, was er angerichtet hatte. Es war wie eine Übung. Er schnitt nur ein Seil durch, und das nicht einmal ganz. Dass es schließlich riss, das war nicht mehr seine Sache. Aber Achim kam nie mehr wieder.
So oder so ähnlich konnte es gewesen sein. Dann hatte Gerrit in der lähmenden Langeweile eines Pfingstmontags auf der Alb, an dem Julians Mutter sich betrank, sich Florian am Computer betäubte, Heinz Rehle Dienst schob und Janette Bereitschaft hatte und sich mit mir traf, seinen Freunden erzählt, dass in der Mondscheinhöhle einer liegen müsse, ein Toter. Sie hatten sich gefragt, wie er wohl aussehe. Halb verfault, ganz verfault, bloß noch Knochen. Kurzerhand hatten sie den Entschluss gefasst nachzuschauen. Volker, Laura und Julian unbefangener als Gerrit.
»He!«, rief Janette und riss die Kamera hoch. »Jetzt hätten wir den Abflug fast noch verpasst.«
In der Tat, Hark stand mit erhobenem Arm auf dem grünen Platz, drehte die Nase des Archäopteryx erneut in den Wind, warf den kleinen Elektromotor an, der im Hals untergebracht war, und blickte sich nach Gerrit um, der die Hand an der Fernsteuerung hatte.
Gerrit nickte.
Hark setzte sich in Bewegung, lief ein paar Meter und übergab den Flugsaurier den Lüften. Das Griffstück löste sich, wie es sollte, und der Drache nahm den Flug auf, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.
»Er fliegt!«, jubelte Gerrit.
In weiten Kreisen stieg der Archäopteryx empor, gewann Höhe vor der schattigen Kulisse der Alb, strich an der Sonne vorbei und eroberte den blauen Himmel über dem Bergkegel mit der Burg Teck.
Bodo Schreckle beschattete seine Augen mit der Hand und jubelte: »Dass ich das noch erleben darf! Die Rückkehr der Flugsaurier auf die Schwäbische Alb.« Hildegard Obermann lachte. Janette fotografierte.
»Komm, Lisa! Gehen wir«, sagte Richard leise. »Weißt du«, fügte er nach ein paar Schritten hinzu, »ich wollte es nicht wahrhaben, aber eigentlich wusste ich es schon länger.«
Ich zerrte Cipión quer hinter mir her. »Wieso?«
»Das Handy, Lisa.«
»Wie gut, dass wir uns immer die Wahrheit sagen, ganz offen und ehrlich!«
»Stimmt. Nachdem ich dir gegenüber
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