Höhlenangst
der Uracher Spinnen steht dort.«
»Bist du fertig mit deinem Artikel? Ab in den Satz damit. Wir müssen los.«
»Wohin denn?«
Bad Urach faltete sich unterm schwarzen Himmel fachwerkreich in den Albtrauf. Die Schilder zum Wasserfall weckten Wandertagserinnerungen an die Naturwunder der Schwäbischen Alb. Der säuerliche Geruch zu warm gewordener Vesperbrote, Calcit auf den Blättern, dort, wo ein gewisser Brühlbach sechsunddreißig Meter aus einer Tufftülle herunterstürzte und das Gebüsch verkalkte. Mir fiel die Wegbeschreibung wieder ein, die Hark heute Morgen Richard gegeben hatte: gleich am Ortseingang links. Ein kleines Schild: Spedition Müller. Auf dem dunklen Hof standen ein weißgrüner Streifenwagen und der silberne Dienstaudi der Kriminalpolizei. Ich stieß rückwärts wieder raus und parkte draußen am Straßenrand.
»Wir kommen als Freunde der Familie«, impfte ich Janette, als wir ausstiegen.
»Gott, was soll ich Eva denn sagen?« Als Journalistin hätte sie es gewusst, aber privat war man auf so etwas niemals vorbereitet.
Ein Uniformierter passte uns an der Tür ab.
»Eva!«, rief Janette laut und stürzte an dem Polizisten vorbei auf Winnies junge, ziemlich blonde Frau zu, die im Flur von zwei Zivilbeamten bedrängt wurde. In die Umarmung der beiden Frauen wagte keiner der Beamten sich einzumischen.
Ich drückte mich inzwischen hinterrücks ein Stück die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe saßen in Schlafanzügen die Orgelpfeifen, ein Mädchen und zwei Buben, das Mädchen vielleicht zwölf und die Jungs neun und fünf Jahre alt, und Eva war schon wieder schwanger.
»Was ist tot?«, fragte der Kleinste.
»Papa muss nicht mehr arbeiten«, antwortete der Mitt lere. »Und Papa und Mama streiten sich nicht mehr, weil er nicht zum Abendessen heimkommt. Er kommt nämlich überhaupt nicht mehr.«
»Und jetzt schafft niemand mehr das Geld ran und wir müssen ausziehen und verhungern«, sagte das Mädchen. »Oma und Opa haben ja nichts.«
Ich schüttelte den Kopf. Die Augen der Kinder wand ten sich mir zu. Leider entdeckte mich auch der Uniformier te. »Und in welcher Beziehung stehen Sie zur Familie?«
Die Zivilbeamten drehten sich um. Ich hatte Richards Schatten schon von hinten erkannt: Hauptkommissar Abele trug einen whiskyfarbenen Dreiteiler mit Schlips und beigefarbenem Hemd. Was den Schatten vom Original unterschied, war nicht nur die Brille im unausgewuchteten Gesicht, sondern auch der Bauchansatz unter der Weste und die gut fünfzehn Jahre weniger.
»Sie schon wieder«, sagte er.
»Ich bin eine Freundin der Freundin«, antwortete ich und zog schon mal meinen Personalausweis. Abeles linkes unteres Augenlid begann zu zucken. »Schaffen Sie die raus!«, sagte er leise zu dem Schutzpolizisten.
Ich zog mich freiwillig auf den Speditionshof zurück.
Ein Bewegungsmelder ließ an der geziegelten Fassade eines lang gestreckten Hallenbaus älterer Machart ein Licht aufflammen. Hinter dem verstaubten Riffelglas zweier Tore zeichneten sich die Konturen von Kleintransporterschnauzen ab. Der Rest der Halle sah nach Lager aus. Davor lagen Schrottteile, abgesägte T-Träger, Kanteisen, rostige Röhren. Die Tür zum Büro war abgeschlossen. Das Sicherheitsschloss wirkte neu und fest, aber das Riffelglas hatte einen Sprung. Am Zaun zu einem finsteren Nachbargrundstück lagen Drahtrollen und größere Eisenröhren. Am Zaun entlang führte ein schmaler Pfad hinter die Halle. Es roch nach Wasser. Ein Bach gurgelte. Vermutlich die Erms, jenes Gewässer, das durch den Schluchtwald der Uracher Spinne herabplätscherte.
Sehen konnte ich nichts, aber fühlen, ob die Fenster alle verschlossen waren. Gleich an der Ecke war eines gekippt. Es wirkte sogar ziemlich locker in den Angeln. Ich zögerte. Ein Einbruch würde nicht gut aussehen, wenn die Polizei entweder gleich oder morgen früh das Büro aufsuchte, um Einblick in die Fahrten- und Auftragsbücher der Spedition zu nehmen. Die Spurensicherung würde alles abpinseln. Und da ich schon erkennungsdienstlich behandelt worden war, waren meine Fingerabdrücke vermutlich im Polizeicomputer. Ich wienerte den Fensterrahmen an den Stellen, die ich berührt hatte, schnell mit meinem Jackenbündchen ab. Und schon erwiesen sich meine Überlegungen als überflüssig, denn im Büroteil flammte Licht auf. Ehe ich abtauchte, sah ich Kommissar Abele und seinen Begleiter zur Tür eintreten. Dann befand ich mich unterhalb der Fensterkante und rutschte mit dem Rücken
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