Höhlenangst
ihn, auch wenn sie ihn immer noch Bodo den Schrecklichen nennen. Er geht viel raus mit ihnen. Das ist ja so wichtig heutzutage, wo selbst die Kinder auf dem Land eine Buche nicht mehr von einer Kastanie unterscheiden können.«
»Er hat sehr um seine Frau Renate getrauert«, sagte ich. »Aber inzwischen …« Ich zog meine Zigarettenschachtel und das Titanzippo aus der Innentasche meiner Lederjacke und lächelte Obermann an. »… inzwischen scheint er mir durchaus wieder offen für neue Begegnungen. So wie er mit mir flirtet.«
Sie senkte den Blick und ordnete die Armkettchen.
Janette ergab sich inzwischen dem Trunk.
»Wie dem auch sei, Frau Nerz«, sagte Hildegard und warf Richard einen kurzen Blick zu, der auf das Zippo in meiner Hand starrte. »Sie sind sicher nicht zu dieser Stunde aufgekreuzt, um sich mit mir über Bodo Schreckle zu unterhalten.«
»Bei Meidelstetten ist ein Kleintransporter mit Landminen explodiert. Eigentlich müssten Sie die Detonation gehört haben. Ach nein, Sie waren ja im Konzert in Stuttgart.«
Obermann blickte wieder zu Richard hinüber.
»Am Steuer«, fuhr ich fort, »saß Winnie Müller aus Bad Urach. Außerdem wurde in sein Büro eingebrochen. Abele meint allerdings, es sei ein fingierter Einbruch. Winnie hatte auch den Transporter gestohlen gemeldet, saß aber selber drin.«
Richard zog die Zigarettenschachtel aus seinem Jackett.
»Und nun wollen Sie«, sagte Obermann mit einem kleinen Lächeln, »ein paar Worte unter vier Augen mit dem Herrn Staatsanwalt sprechen. Und Sie haben auch schon verstanden, dass Sie beide Ihrer Sucht auf dem Balkon frönen müssen.« Sie lachte.
Richard stand auf. Das riss allerdings auch Janette aus ihrer Melange aus Alkohol und existenzieller Erschütterung hoch. Zwischen Couch und Tisch hervor stolperte sie zur Balkontür, die Richard ihr aufhielt.
Obermann schmunzelte. »Damit hat sich Ihr Manöver wohl vorerst erübrigt, nicht, Frau Nerz?«
Ich ließ mich wieder in den Sessel sinken, die kalte Zigarette in der Hand, während hinter mir die Balkontür einrastete und Richard und Janette ausschloss.
»Erlauben Sie, dass ich die Gunst des Moments für ein paar Worte nutze?« Sie hatte Sinn fürs Wesentliche. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich fragen, was Richard seit anderthalb Wochen bei mir macht.«
»Nicht mehr«, antwortete ich. Sie hatte wirklich alles, was Richard brauchte, Intelligenz, Klugheit, Kultur und Eleganz.
»Wissen Sie, Richard und ich, wir kennen uns seit der Schulzeit. Wir haben zusammen in Balingen Abitur gemacht. Danach haben sich unsere Wege zwar getrennt – ich bin nach Stuttgart gegangen an die PH und er hat in Tübingen Jura studiert –, aber wir haben uns eigentlich nie aus den Augen verloren.«
Sie wählte ihre Worte gut. Als ob sie sich nicht sicher sein könnte, wie viel Richard mir über sich anvertraut hatte, über das Drama seiner Jugend, das in einer Trunkenheitsfahrt gegipfelt hatte, die fast seine Karriere im Ansatz abgewürgt hätte.
»Inzwischen«, signalisierte ich ihr, »hat er ja seinen Weg gefunden, nicht?«
Sie deutete ein Lächeln an. »Und jetzt denken Sie vermutlich, alte Freundschaft rostet nicht. Tut sie auch nicht, Frau Nerz. Richard ist im Kern nämlich immer derselbe geblieben. Heute versteckt er seine Unsicherheiten und Zweifel nur besser.«
»Woran zweifelt er denn?« Ich tappte in die Falle.
»Wenn Sie das nicht wissen, Frau Nerz, dann sollten Sie vielleicht einmal ernsthaft über sich nachdenken.«
Die Zigarette knackte in meiner Hand. Hildegard Obermann deutete auf einen Papierkorb neben dem Klavier. Ich stand auf und bröselte den Tabak hinein.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Nerz, aber Sie haben wohl unlängst etwas Schlimmes erlebt … Keine Sorge, Richard hat mir nicht erzählt, was es ist. Das zu erzählen, so meinte er, hätten nur Sie das Recht. Aber er macht sich Vorwürfe, weil er nicht nur zu spät kam, sondern wohl auch noch schuld daran war, dass es überhaupt so weit kommen konnte.«
Das Zimmer schwankte mal kurz. »Ich kann Sie beruhigen, Frau Obermann. Er ist gerade rechtzeitig gekommen, um mir das Leben zu retten. Auch Selbstzerfleischung kann Luxus sein. Den ich mir allerdings nicht leisten kann. Ich finde, es gibt im Leben Wichtigeres zu tun, als grammweise seine und meine Schuld abzuwiegen.«
»Was denn?«
»Och!« Ich fegte die letzten Krümel aus meiner Schweißhand. »Dass er die Zahnpastatube wieder zumacht. Das wäre wirklich
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