Höhlenangst
musste selber zupacken: erst die Linke, um die Schelle darüber zu schlagen, wobei die bewegliche Klammer durchschwang und sich von unten ums Handgelenk legte, dann die Rechte, um den Oberstaatsanwalt nicht etwa pro forma vorne, sondern auf dem Rücken zu schließen wie einen Schwerverbrecher.
»Es tut mir Leid, Hildegard«, wandte er sich an seine Gastgeberin. »Das hätte ich dir gern erspart.«
»Keine Ursache, Richard. Es war ein … ein schöner Abend.«
Janette riss ihren Fotoapparat hoch. Ich schlug ihn runter, und das Bild verblitzte sich irgendwo auf dem Teppich.
»He!«, schrie Janette. »Er hat Winnie umgebracht!«
»Quatsch!«
Da hatten sie Richard schon hinausgebracht. Vom Balkon aus konnte ich sehen, wie sie ihn zum Streifenwagen führten, eine Hand auf der Schulter, die andere auf seinem Kopf, damit er sich beim Einsteigen nicht am Autorahmen stieß.
Neben mir klirrten die Gold- und Perlenketten und Armbänder von Hildegard Obermann. Ihr Atem wölkte in die Nacht. »Aber das hat er doch nicht getan! Das ist alles ein Irrtum, oder? Das wird sich alles schnell aufklären, nicht wahr, Frau Nerz?«
»Richard hat bestimmt niemanden ermordet. Da kann ich Sie beruhigen. Aber dass die Polizei immer den Falschen verhaftet, gehört eher in den Bereich der Kriminalliteratur. Wenn man einen Staatsanwalt abholt, muss sich schon ein gewaltiger Indiziendruck aufgebaut haben.«
»O Gott!«
»Ich meine, ein paar Tage wird es schon dauern, bis Sie ihn wiederhaben. Ich hoffe nur, er nimmt sich einen Anwalt. Hat er Ihnen gegenüber eigentlich erwähnt, dass er vor mehr als einer Woche sein Handy verloren hat?«
»Nein.« Sie fröstelte in ihrem violetten Jäckchen über der Bluse. »Aber er hat keins benutzt.«
»Tja, wenn Richard nicht so verschwiegen wäre …« Und hätte ich meine paar Minuten mit ihm auf dem Balkon nicht mit Spiegelfechtereien verplempert …
»Apropos Handy, ist das Ihres?«, fragte Obermann und griff aufs Fensterbrett neben der Terrassentür.
»Oh! Ja, danke.«
Netterweise hatte Richard mein Handy nicht mit in Haft genommen.
Ich schleppte Janette zum Auto. In Meidelstetten vor dem Gasthof Adler stand keine schwarze S-Klasse mit getönten Scheiben mehr herum. Die Polizei war wirklich schnell. Da die Straße nach Steinhilben gesperrt war – wegen des Explosionskraters –, musste ich zurück und über Hohenstein und Oberstetten nach Süden fahren.
29
Winnies Gutachten über das Unglück im Todsburger Schacht umfasste dreißig Seiten. Die Höhlenrettung war von der Wirtin des Wirtshauses zum Eseleck in Mühlhausen zwei Stunden nach der dort hinterlegten Rückkehrzeit alarmiert worden. Eine halbe Stunde später hatte sich der Vorstoßtrupp der Höhlenrettung Uracher Spinne mit dem Einsatzwagen und vier Mann auf den Weg zum Dra ckensteiner Hang gemacht. Winnie war in die Schachthöhle eingestiegen und hatte nach eigener Darstellung den Schwerverletzten bewusstlos am Höhlengrund und die Tote mit Pendelverletzungen im Seil gefunden.
Der Bergungseinsatz war aufwändig gewesen. Flaschenzug, Bergungsschale, komplizierte Seilführung über diverse Schächte, durch Röhren und Engstellen bis in die Untere Halle. Man hatte zuerst den Verletzten geborgen, dann die Tote.
»Zum möglichen Unglückshergang ist zu bemerken«, leitete Winnie den letzten Abschnitt ein und fuhr fort, dass die Ausrüstung vollständig und in gutem Zustand gewesen sei und allen Sicherheitsansprüchen genügt ha be. Die beiden verwendeten Seile seien neuwertig und unbeschädigt und die Karabiner, Steigklemmen, Schlaufen und Abseiler in tadellosem Zustand gewesen. Am Seil der tödlich verunglückten Frau – Winnie nannte keine Namen – habe es zwar eine leichte Verunreinigung durch eine fettige Substanz gegeben, jedoch rund zehn Meter oberhalb des Petzl-Stops, weshalb sie nicht relevant für den Pendelsturz in die Untere Halle gewesen sei.
Der Petzl-Stop des Schwerverletzten sei ebenfalls funktionstüchtig gewesen. Er habe unter dem Körper des Verunglückten gelegen und sei von Schlamm verunreinigt gewesen. Das Seil sei jedoch ordnungsgemäß durch ihn hindurchgeführt gewesen. Die Lage und die Verletzungen des Verunglückten ließen darauf schließen, dass er nicht rückwärts am Seil hinab, sondern aus der Engstelle vorwärts oder seitlich hinuntergefallen sei, sodass er seitlich aufkam. Dies spreche gegen einen klassischen Petzl-Stop-Unfall, wenngleich das durch den Abseiler geführte Seil andererseits
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